23. Mai 2022

Nein zu Nato und Krieg – Ja zum Frieden

Von Tilo Gräser

Der Krieg in der Ukraine hat die bundesdeutsche Friedensbewegung gespalten. Doch die Kritik an Russland ist kein Ja zur Nato, machten eine Reihe von Friedensaktivisten und -gruppen auf einem Kongress in Berlin deutlich. Sie warnten vor den Folgen der Kriegslogik westlicher Politik.

Zu einer Rückkehr zur Ostpolitik mit ihren Zielen Abrüstung und gemeinsame Sicherheit gibt es für Oskar Lafontaine keine Alternative. Das erklärte der ehemalige SPD- und Linkspartei-Vorsitzende am Samstag in Berlin. Er sprach auf dem Kongress „Ohne Nato leben – Ideen zum Frieden“, zu dem eine Reihe von Einzelpersonen und Gruppen aus der Friedensbewegung gemeinsam in die Humboldt-Universität eingeladen hatten. Etwa 1.000 Menschen nahmen daran real und online teil.

„Wir dürfen nicht müde werden, dem jetzt herrschenden Zeitgeist zu widersprechen“, sagte Lafontaine, der per Videoübertragung zugeschaltet war. „Wir dürfen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass die Ostpolitik eine der besten Phasen der deutschen Außenpolitik war.“ Ihre Prinzipien seien richtig gewesen, so der Ex-Ministerpräsident des Saarlandes. Er widersprach damit jenen, die derzeit alle Erinnerungen an die Entspannungspolitik des 20. Jahrhunderts tilgen wollen, zu der SPD-Politiker wie Willy Brandt und Egon Bahr beitrugen.

„Wir brauchen keine Aufrüstung, sondern Abrüstung“, stellte Lafontaine klar. „Wir brauchen gemeinsame Sicherheit. Das war die beste Formel, die gefunden worden ist. Man kann nur gemeinsam Sicherheit haben. Und wir brauchen eben Wandel durch Annäherung, auch wieder mit Russland.“ Dazu gehöre auch der kulturelle Austausch, der Menschen zusammenführe, aber der derzeit von westlicher Seite zerstört werde, wie der Ex-SPD-Politiker beklagte.

„Nato ist nur Tarnname“

Er forderte eine Sicherheitsarchitektur für Europa, „aber nicht das Sicherheitsbündnis, das sich Nato nennt“. Diese müsste „im Grunde genommen USA heißen“, setzte Lafontaine der offiziellen Propaganda entgegen: „Die Nato ist ein Tarnname. Die Nato ist in der jetzigen Struktur nichts anderes als die Militärmaschinerie der USA, mit einigen Staaten, die sich dieser Militärmaschinerie angeschlossen haben.“

Es sei die Frage zu stellen, „ob wir ein Bündnis mit den USA brauchen, um sicher in Europa zu leben.“ Seine Antwort sei seit vielen Jahren, mit der vom Oligarchenkapitalismus geprägten Weltmacht sei kein friedliches Bündnis möglich. „Denn es gilt die alte Formel von Jean Jaurès: Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“, erklärte Lafontaine.

Der Ex-SPD-Vorsitzende bezog in seine Kritik am oligarchisch geprägten Kapitalismus ausdrücklich den in Russland wie auch den in der Ukraine ein. Ein solches System sei zu Frieden nicht fähig. Das bedeutet für ihn, „dass wir eine andere Wirtschaftsordnung brauchen, um zum Frieden zu finden“.

„Frieden längst möglich“

Er ging auf den derzeitigen Krieg in der Ukraine anhand des kürzlich dazu erschienenen Beitrages in der „New York Times“ (NYT) ein. Er habe von dieser Seite niemals erwartet, dass sie wie er für eine Verhandlungslösung eintritt. So zum Beispiel, indem das Blatt US-Präsident Joseph Biden auffordert, seinem Kiewer Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj die Grenzen westlicher Unterstützung klar zu machen. Für Lafontaine ist das eine „revolutionäre Forderung, denn undenkbar wäre es, dass ein Mitglied der gegenwärtigen Bundesregierung eine solche Forderung aufgestellt hätte, auch nicht führende Politiker der politischen Parteien“.

Er betonte auf dem Kongress, dass der Frieden längst möglich gewesen wäre. Dazu dürfe die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen werden bzw. auf deren Territorium dürften keine militärischen Einrichtungen der Nato wie Raketensysteme installiert werden. Wenn dagegen führende US-Politiker als Ziel verkünden, Russland schwächen zu wollen, sei das „ein Programm, die Ukraine zu zerstören und sehr viele Menschen zu töten“.

Lafontaine forderte, die entsprechende Debatte auch im Bundestag und mit der Bundesregierung zu führen. Er erinnerte daran, dass seit langem Kritiker der Nato auf folgenden Aspekt hinweisen: Solange die USA als deren führende Macht weltweit Angriffskriege und verdeckte sowie Handelskriege führen, gefährden sie die anderen Mitglieder des Bündnisses anstatt ihnen die gewünschte Sicherheit zu bringen. „Eine Oligarchie, die ständig Kriege führt, kann kein Verteidigungsbündnis führen.“

Beifall und Gegendemonstranten

Der Politiker, der inzwischen auch aus der mitgegründeten Linkspartei wieder ausgetreten ist, forderte dazu auf, sich für eine Verhandlungslösung für die Ukraine einzusetzen. Werde der Krieg fortgesetzt, führe das zu weltweiten Schäden, warnte er. Zu einer Verhandlungslösung gehört für ihn die Neutralität der Ukraine, Autonomie für den Donbas sowie der Verbleib der Krim in der Russischen Föderation. „Das ist eine Frage der Realpolitik“, so Lafontaine.

Lafontaine bekam im überfüllten Universitätshörsaal Beifall der meisten der etwa 300 Teilnehmenden. Doch eine klare kritische und dennoch differenzierte Sicht wie die des einstigen SPD- und Linkspartei-Chefs und anderer Referenten des Kongresses auf die Rolle der Nato und den Krieg in der Ukraine schienen vor und während der Veranstaltung nicht alle zu verstehen. So begleitete eine kleine Gruppe von Gegendemonstranten, anscheinend vor allem Studenten, den Kongress vor der Universität. Sie riefen via Megaphon und Lautsprecher „Russian Propganda kills“, trugen Schilder wie „Keine russische Propaganda an Universitäten“ und ukrainische Fahnen.

Dass niemand der auf dem Kongress live oder per Video Auftretenden sowie der daran Teilnehmenden den russischen Einmarsch in der Ukraine kritiklos begrüßte oder dem zustimmte, bekamen sie nicht mit. Auch anscheinend nicht derjenige von ihnen, der in dem Hörsaal auftauchte, nach dem der Kirchenkritiker und Friedensaktivist Eugen Drewermann seine bewegte und bewegende „Rede gegen den Krieg“ gehalten hatte. Auch Drewermann hatte Russland für den Angriff auf die Ukraine verurteilt, aber zugleich aufgerufen, alles für den Frieden zu tun.

Gefährliche Unkenntnis der Geschichte

Doch der Student, nach eigenen Angaben aus Georgien stammend und 23 Jahre, wollte vom Publikum wissen, welche Möglichkeiten er denn habe: Er wolle Pazifist sein, habe aber schon als Zehnjähriger erlebt, was Krieg bedeutet, weil russische Soldaten sein Land überfallen hätten. Zweimal habe er Krieg erlebt, sagte er und ließ aus, dass den Krieg 2008 in Georgien dessen damaliger Präsident Michail Saakaschwili vom Zaun gebrochen hatte – wohl auf Unterstützung der USA hoffend, die aber nicht kam. Drewermanns Antwort, die Georgier bräuchten keine Angst vor Russland zu haben und nicht der Nato beitreten müssten, dürfte ihn kaum erreicht haben.

Kurz danach demonstrierte er wieder vor der Universität (rechts mit Mütze). Ihm und den anderen war anscheinend schon zu viel, dass auf dem Kongress gefordert wurde, bei aller Kritik wegen des völkerrechtswidrigen Angriffs Russland nicht zu verteufeln. Dass aufgerufen wurde, mit allen diplomatischen Mitteln für Frieden zu sorgen statt fortgesetzt Waffen zu liefern, die den Krieg verlängern.

Ähnliches hatten die Organisatoren der Veranstaltung schon vorher erlebt, bis hin zu Diffamierungen in einigen Medien. Oder die jungen Menschen haben einfach nicht verstanden, worum es geht. Wenn sie sich denn dafür interessiert haben, mit ihrer Geschichtsunkenntnis und
-vergessenheit.

Wegen der Gegendemonstranten konnten die an dem Kongress Interessierten die Universität nur über den Hintereingang betreten. Die Publizistin Daniela Dahn war sichtlich genervt von der nicht überhörbaren Hetze und beklagte in der letzten Runde der Veranstaltung den „vergifteten Diskursraum“. Dahn gehört zu den Erstunterzeichnern des Offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.

Sie habe den Eindruck, dass „Deutschland sich jetzt von seinen Befreiern befreien will“. Wer an historische Zusammenhänge erinnere und darauf hinweise – „eine normale Sache für denkende Menschen“ –, müsse sich rechtfertigen. Dem werde unterstellt, er unterstütze die falsche Seite, so Dahn. Sie bedauerte, „dass die Friedensbewegung nun auch gegen Russland sein muss, ist bitter genug“.

„Versagen der Politik“

Eine Aggression sei die gravierendste Verletzung des Völkerrechts, aber sie frage sich, ob es in der Welt überhaupt noch eine Rolle spiele. „Im Grunde war es längst durch viele vorherige Angriffskriege außer Kraft gesetzt.“ Und: „Wer heute gegen Russland seine Stimme erhebt, muss noch kein Nato-Verbündeter sein, wie von uns verlangt und erwartet wird“, stellte die Publizistin klar. „Die schlichte Logik, wer gegen die Nato ist, ist für Putin, lassen wir uns nicht unterstellen.“

Dahn bezeichnete es als „sehr bemerkenswert“, dass sich heute Pazifisten und Entspannungspolitiker rechtfertigen müssen – „und nicht die, die uns in diese Situation gebracht“. Es handele sich um ein „Versagen von Politik und nichts anderes“. Sie zitierte Albert Einstein, der einst feststellte: „Massen sind nie kriegslüstern, wenn sie nicht von Propaganda vergiftet sind.“ Ebenso erinnerte sie an die Aussage des ukrainischen Friedensaktivisten Yuri Sheliazhenko zuvor auf dem Kongress, dass jene den Krieg nicht stoppen, die von ihm profitieren.

„Frieden ist zu wichtig, als dass wir ihn den Politikern überlassen können“, betonte die Publizistin, weshalb weiter eine starke Friedensbewegung gebraucht werde. Für eine europäische Sicherheitsarchitektur, die Russland einschließt, sprach sich danach der Historiker Peter Brandt aus. Er verurteilte den russischen Angriff, meinte aber: „Frieden ist nicht allein Sache der Ukraine“, auch weil es sich um einen Stellvertreterkrieg handele.

„Eigentliches Ziel ist China“

Sevim Dagdelem, Bundestagsabgeordnete und Außenpolitikerin der Linkspartei, stellte fest, die dramatische globale Situation vom Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland gekennzeichnet sei. Doch dessen Ziel sei es eigentlich, China zu schwächen, sagte sie und berichtete von einer deutsch-US-amerikanischen Tagung vor einigen Wochen in Washington mit hochrangigen US-Politikvertretern: „Es ging nur um China.“ Das sei schon zuvor im Dezember bei einer internationalen Parlamentarier-Konferenz in der US-Hauptstadt so gewesen.

Dagdelem wird inzwischen selbst in ihrer eigenen Partei angegriffen, weil sie sich nicht einseitig  gegen Russland positioniert. Sie warnte vor der zunehmenden Gefahr, dass durch die Waffenlieferungen an die Ukraine durch Nato-Staaten diese direkt an diesem Krieg beteiligt werden könnten. Das wiederum erhöhe das Risiko eines atomar geführten Dritten Weltkrieges, so die Abgeordnete.

„Alle Bemühungen der Friedensbewegungen müssen darauf gerichtet sein, genau das zu verhindern“, sagte sie und fügte hinzu: „Deshalb dürfen wir uns auch nicht einschüchtern lassen!“ Es müsse weiter selbstbewusst für einen Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine und der Ausbildung ukrainischer Militärs eingetreten werden, ebenso wie für eine Verhandlungslösung, um den Krieg zu beenden. Es gehe darum, angesichts der medialen Kriegskampagnen „der Wahrheit wieder auf die Beine zu helfen“.

Erinnerung an „Koalition der Vernunft“

Ebenso sprach sich Friedensaktivist Reiner Braun dafür aus, sich wieder für die Friedenslogik stark zu machen. Zu der gehöre, dass auch die Sicherheitsinteressen der anderen Seite beachtet werden müssen wie die eigenen. Braun verwies darauf, dass weltweit nur wenige Länder der Kriegslogik der Nato und ihrer Führungsmacht USA folgen. Und er erinnerte an den einstigen DDR-Partei und Staatschef Erich Honecker, der in den 1980er Jahren, im Kalten Krieg der beiden Blöcke, zu einer „Koalition der Vernunft“ aufgerufen hatte. Das sei auch heute wieder notwendig, wie auch die Kritik an der Nato als globalem Militärbündnis verstärkt werden müsse.

Zum mehrstündigen vollen Programm des Kongresses gehörte auch ein Grußwort der Journalistin Gabriele Krone-Schmalz, die nicht persönlich dabei sein konnte. Sie forderte, den Krieg in der Ukraine „so schnell wie möglich zu beenden“. Über den Weg dazu müsse gestritten werden können, ohne die andere Seite gleich zu diffamieren.  „Dazu ist es nötig, sich zuzuhören und nicht alles, was nicht in die eigene Sichtweise passt, als Propaganda abzutun“, so Krone-Schmalz. „Wir brauchen informierte Debatten, was in Kriegszeiten schwierig genug ist.“

Das Grußwort las stellvertretend der Journalist Ekkehard Sieker vor. Er erinnerte später in einem eigenen Vortrag an die „Wächterfunktion“ des Journalismus.  Doch die werde nicht mehr wahrgenommen und Aufklärung sei eine Sache der Geheimdienste geworden, beklagte Sieker. Er sprach über die gezielte „Strategische Kommunikation“ von Nato und EU, die gegen Russland gerichtet sei. Es drohe eine „langsame Faschisierung der bürgerlichen Gesellschaft“, warnte der Journalist.

Warnung vor Kriegsfolgen

Dazu trage das Schweigen der Künstler bei, stellte der Musiker und ehemalige Bundestagsabgeordnete Diether Dehm fest.

Er beklagte mit einem Zitat von Peter Hacks das „mediale Jagdfieber“ gegen alle, die eine andere als die herrschende Meinung vertreten. Eigentlich sei von Kulturschaffenden und Journalisten zu erwarten, „Angst vor Oben, Angst vor den Herrschenden zu vermindern und mit weniger Angst zu argumentieren“. Dehm sprach sich dafür aus, die Anstrengungen für Frieden und gesellschaftliche Alternativen zu vernetzen.

Dabei sind die Wege zum Frieden seit Jahrhunderten bekannt, wie der Theologe Drewermann in seiner „Rede gegen den Krieg“ anhand von Zitaten großer Denker zeigte. Er leistete beeindruckend das, was Bertolt Brecht in seiner Rede für den Friedenskongress 1952 einforderte
Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde!
Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!
Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden Zweifel, wenn denen, die sie in aller Öffentlichkeit vorbereiten,
nicht die Hände zerschlagen werden.

Drewermann zitierte unter anderem den Schriftsteller Wolfgang Borchert, der kurz nach dem millionenfachen Morden des Zweiten Weltkrieges forderte:




… Du. Mann auf dem Bahnhof. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug und für den Truppentransporter, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins:
Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du am Hoangho und am Missisippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären,
Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins:
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN! …

Borchert hatte kurz vor seinem Tod vor den Folgen gewarnt, wenn das Nein nicht laut gesagt wird.

Der Kongress in der Humboldt-Universität war ein deutliches und klares Nein an die Kriegstreiber vor allem der Nato. Dazu trugen auch jene aus verschiedenen Ländern bei, die zu Fragen des Völkerrechts, den internationalen Perspektiven und Themen wie Umweltschutz und Künstliche Intelligenz als Waffe sprachen.

Dass das Nein nicht zu übersehen und zu überhören war, zeigten ebenso die Störmanöver und Angriffe im Vorfeld, während der Veranstaltung und mancher abwertende Mainstream-Medienbericht danach. Die Organisatoren lassen sich davon nicht beeindrucken, wie die Journalistin und Friedensaktivistin Christiane Reymann als eine von ihnen zum Abschluss erklärte. Sie wollen den Kongress dokumentieren und die begonnene gemeinsame Arbeit fortsetzen, auch mit neuen Ideen.

Fotoquelle: Tilo Gräser (alle Fotos)