14. Juli 2022

Ein notwendiger Abschied

Von Tilo Gräser

Nicht weniger, als sich aus der US-Vorherrschaft zu befreien, fordert der Journalist und Nahostexperte Michael Lüders in einem Buch. Er begründet das und analysiert, warum die US-Dominanz bis heute (noch) funktioniert.

Der US-geführte Westen spielt sich derzeit wieder mal als vermeintlicher Wächter und Bewahrer des Völkerrechts auf. Anlass ist der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar dieses Jahres. Dabei haben die westlichen Staaten keinen Grund für ein solches verhalten. Sie haben das moralische Recht, sich so aufzuspielen, längst verwirkt. Das belegt Michael Lüders in seinem 2021 erschienenen Buch „Die scheinheilige Supermacht“. In dem begründet er, „Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen“, wie es im Untertitel heißt.

Der Autor ist Nahost-Experte und Journalist sowie Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Er begründet mit zahlreichen historischen und aktuellen Fakten, warum er die selbsternannte „Weltmacht Nummer 1“ mit ihrer „brutalen Machtpolitik“ so deutlich kritisiert. Er zeigt zugleich, wie die westliche Öffentlichkeit durch gezieltes Meinungsmanagement seitens der US-Eliten manipuliert wird – leider oftmals erfolgreich.

Lüders erinnert an all die US-amerikanischen Verbrechen seit 1945, die Missachtung jeglichen internationalen Rechts, ob durch den Vietnam-Krieg, den 1999 gegen Restjugoslawien oder den gegen den Irak 2003, ob durch geheime Spezialoperationen oder durch Sanktionen gegen missliebige Staaten. Und er erinnert zugleich daran, dass die Bundesrepublik und andere Staaten meist als treue Vasallen sich daran beteiligten. Europäische und deutsche Transatlantiker hätten so sehr „ihre Rolle eines Juniorpartners an der Seite der USA verinnerlicht, dass sie selten darüber nachdenken, ob die Richtungsvorgaben des Bündnispartners tatsächlich auch den hiesigen Interessen dienen, ihnen möglicherweise nicht sogar widersprechen.“

Weltmacht im Niedergang

Für den Autor sind die USA ein Imperium, eine „Weltmacht im Niedergang“, weshalb sich die Europäer fragen sollten, wie es mit dieser halten. Er stellt zu Beginn seines Buches klar: „Einem Imperium geht es in den seltensten Fällen um Werte. Im Vordergrund steht die Durchsetzung und Wahrung eigener Interessen, insbesondere die Verteidigung gegebener Vorherrschaft. Das zugrundeliegende Geschäftsmodell, über alle Jahrhunderte, ist die Mehrung des Reichtums einer Minderheit auf Kosten der Mehrheit.“

Vieles, was Lüders in seinem Buch geschrieben hat, ist über das Erscheinungsjahr 2021 brandaktuell geblieben, auch was die Rolle der bundesdeutschen Politik und der Medien hierzulande angeht – weil sich darin seit 1989 bereits Tendenzen durchgesetzt haben, die sich derzeit nur ganz offen und deutlich zeigen. So stellt er unter anderem fest, dass das Völkerrecht „aus Sicht der USA und der EU spätestens seit dem Kosovo-Krieg 1999 nur noch eine untergeordnete Rolle spielt – sofern westliche Akteure dagegen verstoßen“. Und: „Die Causa Kosovo markiert auch den Beginn eines zunehmend offensiv vertretenen Nato-Selbstverständnisses, demzufolge nicht allein die Landesverteidigung deren Aufgabe sei, sondern auch unter anderem die Sicherung von Rohstoffen und Verkehrswegen. Eine solche Zielsetzung erfordert nötigenfalls eine flexible Auslegung internationaler Rechtsnormen.“

Das Geschehen am und um den Persischen Golf ist einer der Belege, die laut dem Autor zeigen: Wer die vom Westen dominierte Ordnung stört, muss die Konsequenzen tragen. Und er benennt die Folgen: „Die militärischen Eingriffe der USA wie auch jene, die eher unsichtbar im Hintergrund wirken, haben seit dem Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen das Leben gekostet und ganze Staaten verheert, vor allem in Lateinamerika und in der arabisch-islamischen Welt, Vietnam nicht zu vergessen.“

Manipulation durch Meinungsmanagement

Lüders stellt erstaunt fest: „Dessen ungeachtet gelten die USA in der hiesigen Öffentlichkeit aber keineswegs als ‚Schurkenstaat‘, sondern als unersetzliche Nation, Grant für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.“ Das sei das Ergebnis des Meinungsmanagements, mit dem die neo-imperiale Agenda des US-geführten Westens erfolgreich verschleiert wird.

„Die Ausübung von Macht geht immer auch einher mit Manipulation, insbesondere der öffentlichen Meinung“, schreibt Lüders und fügt hinzu: „Das ist in einer Demokratie nicht grundsätzlich anders.“ Für diesen Befund führt er die Pioniere der Manipulation aus den USA, Walter Lippmann und Edward Bernays, und deren Erkenntnisse an. So klärt das Buch streckenweise über die Funktionsweise westlicher Medien und ihre Verstrickung in die Machtstrukturen auf.

Den Medien gesteht er zu, als „vierte Staatsgewalt“ eine Wächterfunktion in der Gesellschaft zu haben. Doch sie seien vor allem ein „Kampfplatz, auf dem zahlreiche Akteure versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen“. Medien seien zudem ein Spiegelbild der gegebenen Machtverhältnisse, die sie legitimieren würden. Sein Fazit angesichts der Rolle und des Wirkens der in „Öffentlichkeitsarbeit“ umgetauften Propaganda, wie sie Lippmann und Bernays mitbegründeten: „Die Öffentlichkeit kann mit Hilfe der Massenmedien und/oder von gut aufgestellten Netzwerken im Hintergrund ohne weiteres manipuliert und gelenkt werden – sowohl mit Blick auf ihre Konsumentscheidungen wie auch auf ihre politischen Einstellungen.“

Systemerhalt mit allen Mitteln

An mehreren Beispielen zeigt Lüders, wie das auch bei Kriegen und militärischen Interventionen gezielt genutzt wurde und wird, selbst gegen eigene Verbündete. Am Ende seiner Analyse der Rolle der USA im Weltgeschehen der letzten 100 Jahre kommt er mit Blick auf deren aktuelle Administration unter Präsident Joseph Biden zur Erkenntnis: „Anzunehmen, nach dem ‚Betriebsunfall‘ Donald Trump seien unsere Interessen an der Seite Washingtons erneut sicher aufgehoben, ist eine transatlantische Illusion.“

Bei den Schlussfolgerungen des Autors spielt auch der Konflikt des US-geführten Westen mit Russland, zum Krieg zugespitzt derzeit in der Ukraine, eine Rolle. Ebenso nimmer die zunehmende Konfrontation mit China in den Blick: „Wie schon bei der Dämonisierung Irans oder Russlands geht es dabei nicht um Fakten, sondern um das Erzeugen von Feindbildern, die mit den Mitteln der ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ von der eigentlichen Agenda ablenken. Und die lautet auf Systemerhalt, auf die aggressive Verteidigung der eigenen, der US-amerikanischen Vorherrschaft.“

Lüders warnt die Bundesrepublik davor, gegenüber China „dieselben Fehler zu wiederholen wie schon im Umgang mit Russland: Eine hohle Werte-Rhetorik zu verfolgen statt einer fundierten Realpolitik“. Zugleich stellt er fest, dass es ein zu korrigierender Fehler war, dass die Europäer und die bundesdeutschen Regierungen die US-Konfrontationspolitik gegenüber Russland „viel zu oft mitgetragen“ haben. Notwendig sei eine Politik des Ausgleichs statt der Konfrontation und des weiteren Rüstungswettlaufs.

Distanz und Widerstand notwendig

„Politische Distanz zum strauchelnden Imperium“ hält der Autor für „zwingend geboten“. Er sieht die „Alternative zur Nibelungentreue gegenüber Washington“ in der „selbstbewussten Wahrnehmung eigener Interessen im Kontext der Europäischen Union“. So gehe es darum, europäische „Alternativen zum US-dominierten Finanz- und Bankensystem zu entwickeln“. Das Gleiche gilt für den Bereich der digitalen Technologien und die Frage einer eigenen Verteidigungsfähigkeit.

Lüders wendet sich am Ende seines Buches ebenso gegen die „wertegestützte“ westliche Selbsterhöhung gegenüber anderen Nationen und Völkern mit ihren fatalen Folgen. Sie verdecke nur, worum es eigentlich gehe: „Die Welt ist in Ordnung, solange ‚wir‘ sie beherrschen oder kontrollieren. Die Guten im Westen. Wer diese Ordnung stört, fällt in die Kategorie des ‚Bösen‘, das um beinahe jeden Preis einzuhegen ist, zur Not auch militärisch.“

Doch die Verhältnisse in der Welt haben sich grundlegend verändert, zitiert der Autor den kenianischen Publizisten und Cartoonisten Patrick Gathara: „Heute, so scheint es, ist die Demokratie in den USA (und in Großbritannien) nicht weniger gefährdet als in Kenia und anderswo.“ Lüders verweist auf das „Projekt Weltethos“ unter Federführung des Theologen Hans Küng. Das könne helfen, die globalen Probleme wie Klimawandel, Friedenssicherung und soziale Frage gemeinsam zu lösen.

Der notwendige Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse sei möglich: „Keineswegs ist der Einzelne machtlos. Allerdings benötigt er Verbündete, Gleichgesinnte und einen klaren Kopf, das große Ganze zu erkennen. Angefangen damit, über die Zusammenhänge von Macht, Herrschaft, Wirtschaft und Meinungsmanagement nachzudenken.“ Es gehe darum, „Macht und Herrschaft demokratisch zu erneuern und vor allem transparent zu gestalten“. Wenn die notwendigen Veränderungen nicht gelingen, „wäre der Weg jedes Einzelnen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit noch ein sehr weiter.“ Das gilt auch für Nationen und Staaten. Lüders hat zumindest ein Buch vorgelegt, das helfen kann, diesen Weg zu beschreiten.

Michael Lüders: „Die scheinheilige Supermacht – „Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen“
C. H. Beck Verlag 2021. 293 Seiten; ISBN: 978-3-406-76839-2; 16,95 Euro