11. August 2022

Schritt für Schritt in den Krieg

Von Tilo Gräser

Seit Jahren marschiert der US-geführte Westen gegen Russland und China auf. Warum und wie das erfolgt, das beschreibt Jörg Kronauer in seinem jüngsten Buch. Zugleich warnt er davor, dass „Der Aufmarsch“, so der Buchtitel, in den Dritten Weltkrieg führt.

Der Krieg in der Ukraine, der mit dem Einmarsch der russischen Truppen am 24. Februar dieses Jahres zugespitzt wurde, ist nicht vom Himmel gefallen. Zum einen begann er weit vorher, nämlich im April 2014: Die neue Kiewer Führung, im Februar des Jahres mit westlicher Hilfe per Staatstreich an die Macht gekommen, schickte Soldaten und Panzer gegen Demonstranten in der Ostukraine. Das hatte sich der weggeputschte Präsident Wiktor Janukowitsch gegen die Extremisten vom Maidan nicht getraut. Seitdem führen ultranationalistische Kräfte in Kiew Krieg gegen die Ostukrainer, die sich nicht von westukrainischen Nationalisten und Faschisten regieren lassen wollen.

Das gehört zu der Vorgeschichte der russischen Militäroperation, bei der es sich nach allen militärischen Regeln um einen Krieg handelt. Der Einmarsch am 24. Februar entsprang nicht einfach dem vermeintlich kranken Hirn des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dass westliche Politiker und Medien solches behaupten, dient unter anderem dazu, ihren Anteil an der Zuspitzung des Konfliktes in der Ukraine zu vertuschen.

Die Angst des Westens

Zu den Ursachen gehört ebenso, was Jörg Kronauer in seinem jüngsten Buch „Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg“ beschreibt. Der Autor, Redakteur des Online-Nachrichtenportals „German Foreign Policy“, setzt sich mit dem Geflecht zwischen Russland, China und dem Westen auseinander. Er klärt auf, wer da wen bedroht und wer mit wem die Zusammenarbeit sucht. Die Antwort ist klar: Der US-geführte Westen in Gestalt der Nato bedroht Russland und China seit mindestens drei Jahrzehnten, nachdem die Sowjetunion aufgelöst wurde.

Das geschieht, weil die beiden großen Länder in Eurasien seit mehr als hundert Jahren als potenziellen Konkurrenten gesehen werden von jenen, die (noch) die Welt dominieren. Der US-geführte Westen befürchtet aktuell, dass die von ihm bestimmte unipolare Weltordnung tatsächlich der von Russland und China angestrebten multipolaren Ordnung weichen muss. Um das zu verhindern, werden alle Mittel eingesetzt – notfalls auch militärische, wie Kronauer zeigt.

Aus seiner Sicht weist der westliche Machtkampf gegen Russland und China „klare Parallelen zum früheren Machtkampf zwischen dem transatlantischen Westen und dem sozialistischen Osten auf, zum Ersten Kalten Krieg“.

Der Autor begleitet und analysiert als Journalist seit langem die außenpolitischen und internationalen Geschehnisse. Sein Buch erschien kurz nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, den er als „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ und als „Schockwelle“ bezeichnet. Den Krieg als Zäsur, „die er für die russischen Außenpolitik, ja für Russland insgesamt bedeutet“ hat er nicht mehr darin aufnehmen können. Doch er stellt auch fest: „Der militärische Aufmarsch der Nato aber …, dauert unvermindert an.“ Kronauer gehört zu jenen, die trotz aller Kenntnis der Vorgeschichte, nicht damit rechneten, dass in Europa „fast 23 Jahre nach dem Nato-Angriff auf Jugoslawien wieder ein offener Krieg ausbricht“.

Ignorierte Warnungen

In seinem Buch zeigt er aber, wie sich die Ereignisse fast zwangsläufig in diese Richtung entwickelten. Wie sie durch die westliche Politik hin zu einer Situation führten, die der SPD-Politiker Egon Bahr bereits im Dezember 2013 so zusammenfasste: „Es kann Krieg geben.“ Damals erklärte er vor Schülern eines Gymnasiums in Heidelberg: „Ich, ein alter Mann, sage Euch, dass wir in einer Vorkriegszeit leben.“ 2015 sagte Bahr in einem Interview: „Ich bin alarmiert, weil nicht auszuschließen ist, dass wir mit den Trümmern der deutschen Ostpolitik konfrontiert werden könnten und bewährte Zusammenarbeit durch Konfrontation abgelöst wird.“

Kronauer beschreibt den Weg in diese neue Konfrontation, die nun zum Krieg geworden ist, der (vorerst nur) auf ukrainischem Territorium ausgetragen wird. Das belegt er mit zahlreichen Informationen samt Quellenangaben zum Machtkampf des Nato-Westens gegen Russland und gegen China. Sein Buch hilft zu verstehen, was derzeit geschieht – frei von moralischer Empörung, die jeder Krieg hervorruft. Und es macht deutlich, wer die Verantwortung trägt für die Ereignisse und die Entwicklung zu diesen.

Der Autor zeichnet nach, wie Russland von den USA nach dem Untergang der Sowjetunion immer mehr in die Zange genommen wurde. Er zeigt, wie umgesetzt wurde und wird, was der US-Geostratege Zbigniew Brzezinski 1997 in seinem Buch „The Grand Chessboard“ (deutsch: Die einzige Weltmacht“) so beschrieb: „Mit dem Scheitern und dem Zusammenbruch der Sowjetunion stieg ein Land der westlichen Hemisphäre, nämlich die Vereinigten Staaten, zur einzigen und im Grunde ersten wirklichen Weltmacht auf. […] Inwieweit die USA ihre globale Vormachtstellung geltend machen können, hängt aber davon ab, wie ein weltweit engagiertes Amerika mit den komplexen Machtverhältnissen auf dem eurasischen Kontinent fertig wird – und ob es dort das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht verhindern kann.“

Langfristige US-Strategie

Aus dieser geostrategischen Perspektive der herrschenden Kreise in den USA darf es keine neuen Konkurrenten geben, wie eben das wiedererstarkte Russland und das neu erstarkte China. Es handelte sich keineswegs nur um die Gedanken eines einzelnen einflussreichen Strategen. Davon kündet unter anderem ein „Leitfaden zur Verteidigungsplanung“ („Defense Planning Guidance“) aus dem US-Verteidigungsministerium (Pentagon) vom 18. Februar 1992.

Die „New York Times“ hatte damals Auszüge daraus veröffentlicht, unter anderem diesen: „Unser erstes Ziel besteht darin, das Wiederauftauchen eines neuen Rivalen zu verhindern, der entweder auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oder anderswo eine Bedrohung in der Größenordnung der früheren Sowjetunion darstellt. Dies […] erfordert, dass wir uns bemühen, eine feindliche Macht daran zu hindern, eine Region zu dominieren, deren Ressourcen unter einer konsolidierten Kontrolle ausreichen würden, um eine globale Macht zu schaffen. Zu diesen Regionen gehören Westeuropa, Ostasien, das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und Südwestasien.“

Und: „Es gibt andere potenzielle Nationen oder Koalitionen, die in der weiteren Zukunft strategische Ziele und eine Verteidigungshaltung entwickeln könnten, die auf eine regionale oder globale Vorherrschaft abzielt. Unsere Strategie muss sich nun darauf konzentrieren, das Entstehen eines potenziellen künftigen globalen Konkurrenten zu verhindern.“

Geschwächte Gegenkräfte

Diese beiden Zitate zeigen den Ausgangspunkt dessen, was Kronauer über den langfristigen Aufmarsch gegen Russland und China schreibt. Sein Verdienst ist es, detailliert und nachvollziehbar zu belegen, wie der US-geführte Westen vorgegangen ist und vorgeht. Dazu gehört das, was der ehemalige CIA-Agent Philip Agee 1993 im Vorwort zur Neuausgabe seines Tagebuchs „CIA intern“ zur US-Strategie schrieb: „Für Japan und Westeuropa würde das bedeuten, daß sie fest in sicherheitspolitische Vereinbarungen eingebunden wären, in denen die Vereinigten Staaten die Federführung haben.“ In dem Pentagon-Papier von 1992 heißt es dazu, es sei „von grundlegender Bedeutung, die Nato als das wichtigste Instrument der westlichen Verteidigung und Sicherheit sowie als Kanal für den Einfluss der USA und ihre Beteiligung an europäischen Sicherheitsangelegenheiten zu erhalten.“

Kronauer macht deutlich, dass 30 Jahre danach für einen „großen Krieg der USA gegen China und Russland bzw. einen Dritten Weltkrieg“ trainiert wird. Doch zugleich werde auch dagegen protestiert, „nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten“. Allein Anfang Februar 2022 habe es in mehr als 75 Städten und Gemeinden in den USA Antikriegsproteste gegeben. Aufgrund von Aussagen ehemaliger hochrangiger US-Militärs wie Ben Hodges und James Stavridis warnt der Autor zum Ende seines Buches: „Viel Zeit bleibt womöglich nicht – denn Militärs spekulieren längst darüber, wann der Krieg beginnt.“

Quelle: Tilo Gräser
Eine Forderung der Demonstration für Frieden am 2. Juli 2022 in Berlin (Foto: Tilo Gräser)

Stavridis habe bekundet, mit seinem Buch über einen möglichen Krieg „2034“ mahnen und den großen Krieg unbedingt verhindern zu wollen. „Das freilich geschieht nicht von selbst, dafür muss man seine Stimme erheben und die Gegenkräfte stärken“, schreibt Kronauer. Doch Letztere scheinen derzeit erfolgreich paralysiert. Als hätten sie vor lauter moralischer Empörung über die „Schockwelle“ nicht begriffen, was Russland versucht zu verhindern: Dass der US-geführte Westen in der von ihm seit 2014 kontrollierten Ukraine die Umzingelung abschließt und den Aufmarsch auch atomar vollendet.

Das Buch hilft zu verstehen, warum Moskau und Peking sich zu Recht bedroht fühlen – und warum Russlands Präsident Wladimir Putin nach all den ignorierten Reden, Verhandlungsangeboten und Warnungen seit 2001 am 24. Februar 2022 den Befehl gab, den Aufmarsch gegen sein Land militärisch zu stoppen.

Jörg Kronauer: „Der Aufmarsch – Vorgeschichte zum Krieg. Russland, China und der Westen“
PapyRossa Verlag 2022. 207 Seiten; ISBN 978-3-89438-778-5; 14,90 Euro