15. Februar 2023

Aus Heft 1/23: Fast 200 Jahre alt und attraktiv geblieben

Von Tilo Gräser

Im Herbst 2022 wurde die Genossenschaft „ViER Medien eG“ gegründet. Derzeit warten wir auf die Eintragung in das entsprechende Register durch das zuständige Gericht. Genossenschaftsberater Kay Gärtner erklärt im Interview, warum das traditionsreiche Modell bis heute attraktiv ist.

Kay Gärtner (Foto: Konvex Fotografie Dresden)

ViER.: Herr Gärtner, die Genossenschaft ist kein neues Modell, sondern hat eine fast 200-jährige Geschichte. Warum ist es immer noch zeitgemäß?

Kay Gärtner: Die Anfänge des modernen Genossenschaftswesens gehen zurück ins England und Frankreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Während der frühen Zeit der Industrialisierung führten die großen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft dazu, dass viele Kleinunternehmer und Handwerker um ihr Überleben kämpfen mussten. Diese Entwicklungen führten dazu, dass Bauern, Kleinunternehmer und Handwerker sich zusammenschlossen, um sich durch freiwillige Kooperationen vor der drohenden Armut zu schützen. Die drängenden sozialen Probleme dieser Zeit und die wirtschaftlichen Vorteile des gemeinschaftlichen Wirtschaftens, waren der wesentliche Grund für die Entstehung der ersten Genossenschaften.

In Deutschland wurden die Ideen der Genossenschaften aufgenommen und weiterentwickelt. Die führenden Gründerväter des deutschen Genossenschaftswesens der liberale Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen gründeten etwa zur gleichen Zeit unabhängig voneinander in Deutschland die ersten Genossenschaften als unternehmerische Rechtsform. Die ersten Genossenschaften waren Kredit- und Einkaufsgenossenschaften auch als Vorgänger der heutigen Volksbanken. Mit der stetigen Weiterentwicklung der Genossenschaftsidee entstanden danach die ersten Distributiv- und Produktionsgenossenschaften sowie Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Das System dieser Genossenschaften beruhte auf der Solidarhaftung, dem Erwerb von Genossenschaftsanteilen, der Beschränkung aller Leistungen auf deren Mitglieder, dem Grundgedanken von Selbsthilfe und Selbstverantwortung und der Ablehnung direkter Unterstützung durch den Staat. Die wachsende Popularität der genossenschaftlichen Zusammenschlüsse führte zur Notwendigkeit eines gesetzlichen Regelwerks. Zunächst wurde im Jahre 1869 das „Gesetz, betreffend die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschafts-Genossenschaften“ im Königreich Preußen und kurze Zeit später im Norddeutschen Bund als Fundament des heutigen Genossenschaftsgesetzes eingeführt. Nach Gründung des Deutsches Kaiserreich trat in ganz Deutschland am 1. Oktober 1889 das Genossenschaftsgesetz in Kraft.

Das Genossenschaftsgesetz wurde umfassend geändert durch die Gesetze vom 21. Juli 1954 und vom 9. Oktober 1973. Aufgrund der Verordnung des Rates der Europäischen Gemeinschaft über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) vom 22. Juli 2003 wurde das deutsche Genossenschaftsgesetz im Jahr 2006 nochmals einer grundlegenden Reform unterzogen. Seit 2006 dürfen Genossenschaften neben dem Erwerb oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder auch deren soziale oder kulturelle Belange fördern. Aufgrund der letzten größeren Reform sind Genossenschaften in Deutschland nun noch interessanter und für viele Bürger eine sehr attraktive Möglichkeit.

ViER.: Wie viele Genossenschaften gibt es heute hierzulande?

Gärtner: Ursprünglich als „Kinder der Not“ mit dem Ziel ins Leben gerufen, die miserablen Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, haben Genossenschaften bis heute noch eine hohe Bedeutung in unserer Gesellschaft und Wirtschaft. Derzeit sind in Deutschland über 22,6 Millionen Menschen Mitglied in einer der mehr als 8.000 eingetragenen Genossenschaften. Deren Ziele sind vielfältiger Art zum Beispiel finanziell, wirtschaftlich, kulturell, sozial. Die Genossenschaften bringen manchmal nur drei oder auch Tausende von Menschen zusammen und finden sich fast überall im Handel und Handwerk, Landwirtschaft, Dienstleistungs- und Gesundheitsbereich, im Energiesektor und auch der Industrie. Gerade in Zeiten wie diesen erfahren genossenschaftliche Projekte in Deutschland überwiegend positive Resonanz und werden aufgrund der gerade angelaufenen Krisenzeiten eine wachsende Bedeutung bekommen.

ViER.: Es gibt eine zunehmende Suche in der Gesellschaft nach alternativen Formen, um gemeinsam Probleme zu lösen und die eigenen Interessen wahrzunehmen. Wo sehen Sie die Ursachen?

Gärtner: Die naiven Illusionen, dass „der Staat“ für seine Bürgern da wäre und unsere Politikerkaste „zum Wohle des Volkes“ agiert, haben sich in den letzten Jahren längst aufgelöst. Immer mehr Bürger begreifen, dass „der Staat“ als ideologisch verblendete und fremdbestimmte Umverteilungsmaschine kein einziges Problem nachhaltig löst, sondern eigentlich permanent immer neue Probleme erschafft. Nicht mehr rückzahlbare Staatsschulden, marode Infrastrukturen, kaputte Bildungssysteme, zerstörte Landschaften, sinnlose Kriege im Auftrag von Dritten, irreparabel ruinierte Sozialsysteme und eine Migrationsstrategie gegen die eigene Bevölkerung sind nur einige Beispiele, wie korrupte Politiker, gewissenlose Wirtschaftsbosse und deren Helfer unser Land in allen Bereichen an die Wand fahren.

Die vermeintlichen Lösungen dieser selbstgeschaffenen Probleme dienen hauptsächlich dem Machterhalt des politischen Einheitsparteisystems und der Durchsetzung von dessen ideologischen, fremdbestimmten politischen und wirtschaftlichen Zielen. Wer sich heutzutage noch auf den Staat verlässt, der ist verlassen und mittelfristig wahrscheinlich ganz verloren. Immer öfter verlassen sich die Bürger deshalb nicht mehr auf den Staat, sondern stellen sich gemeinsam mit Gleichgesinnten den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen z.B. bezahlbaren Wohnraum schaffen, kollektive regenerative Energiegewinnung, gemeinsame Nutzung von Fahrzeugen aller Art, autarke Versorgung mit Lebensmitteln usw.

ViER.: Warum gibt es zunehmend Zuspruch für die Idee einer Genossenschaft? Welche Vorteile bietet sie gegenüber anderen rechtlichen Formen, zum Beispiel der GmbH?

Gärtner:  Der Staat schafft nicht nur immer neue Probleme, sondern vergreift sich auch in zunehmendem Maße an den Einkünften und Vermögen der Bürger. Nicht nur bereits vorhandene Abgaben, (Sozialversicherungs-)Beiträge und Steuern werden kontinuierlich erhöht, sondern regelmäßig auch neue „erfunden“ und eingeführt. Die Bundesrepublik in Deutschland ist bei Abgaben und mit ihren 37 verschiedenen Steuern internationale Spitze. Bei der Belastung von Arbeitseinkommen durch Sozialabgaben und Steuern und ist die Bundesrepublik hinter Belgien sogar Vizeweltmeister.

Die Genossenschaft mit ihren drei wesentlichen Führungsprinzipien: „Selbstverwaltung – Selbstbestimmung und Selbstkontrolle in einer staatsfernen Organisation“ ist ein geeigneter Rahmen, denn eine Genossenschaft ist allein und ausschließlich verpflichtet, die Belange und Interessen ihrer Mitglieder zu fördern. Deshalb wird ihr auch keine Gewinnerzielungsabsicht unterstellt. Als Genossenschaft lässt sich für Projekte aller Größenordnungen das dafür benötigte Kapital einfach und unkompliziert von den Mitgliedern einwerben. Die aktiven Genossenschaften selbst sind überwiegend zufrieden mit ihren Gründungen und der Erreichung ihrer Ziele, was auch deren statistisch dauerhaft niedrige Insolvenzquote von unter 0,5 Prozent bestätigt.

Mit der für die Mitglieder steuerfreien genossenschaftlichen Rückvergütung und dem gesetzlichen Auftrag zur Förderung der Mitglieder eröffnet die Genossenschaft steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten, welche andere Unternehmensformen nicht haben. Wohnungsbaugenossenschaften sind unter gewissen Vorrausetzungen sogar komplett von der Körperschaftssteuer und Gewerbesteuer befreit. Bei richtiger Gestaltung kann man in einer Genossenschaft wichtige Vermögenswerte effektiv vor dem Zugriff fremder Dritter schützen und diese auch dem Kreislauf der Schenkungs- und Erbschaftsbesteuerung entziehen.

ViER.: Warum ist Ihrer Meinung nach eine Genossenschaft auch eine Möglichkeit zu sparen?

Gärtner: Durch die politischen Interessen folgende Geldpolitik der Zentralbanken und steigende Inflation wird die Kaufkraft der Geldvermögen aller Bürger laufend entwertet, was im Ergebnis eine schleichende Enteignung bedeutet. Mit attraktiven Beteiligungen an Genossenschaften wird Geldvermögen in Sachwerte und Produktivkapital investiert und damit vor Entwertung durch Inflation geschützt. Was liegt näher, als in Krisenzeiten des Finanz- und Geldsystems die Beteiligungen an Genossenschaften als sinnvollen und sehr oft ertragreichen Weg zur Sicherung des eigenen Geldvermögens zu nutzen? Viele Genossenschaften, teilweise schon viele Jahrzehnte bestehend teils in den letzten Jahren erst neu gegründet, bieten attraktive Beteiligungsangebote in verschiedensten Bereichen an.

Das staatliche Sozialsystem reduziert ständig seine Leistungen auf die minimale Grundsicherung. Ohne private finanzielle Reserven wird zukünftig ein menschenwürdiges Leben insbesondere im Alter kaum noch möglich sein. Es ist für jeden Bürger wichtiger denn je zuvor, sein hart erarbeitetes Vermögen vor dem Zugriff Dritter und den wachsenden Begehrlichkeiten des Staates zu schützen.

Besonders für Immobilieneigentümer und Unternehmer ist die Genossenschaft durchaus eine sehr gute Alternative oder sinnvolle Ergänzung zu anderen Rechtsformen. Steuerliche Gestaltungen zur Optimierung der Ertragssteuerlasten oder Vermeidung von Schenkungs- und Erbschaftsbesteuerung sowie Schutz und Sicherung von Vermögen sind Gründe für diesen Weg.

Sehen wir uns an, inwieweit der Staat auf die Geschäftsguthaben der Mitglieder einer Genossenschaft – auf das Eigenkapital der Genossenschaft – zugreifen kann. Nach den derzeit geltenden Gesetzen gar nicht. Obwohl man heute leider sagen muss, was gilt das im besten Deutschland aller Zeiten schon. Die jüngsten Maßnahmen des Staates zum Infektionsschutzgesetz, zur Bekämpfung systemkritischer Bürger usw. verdeutlichen, dass wesentliche Bürger- und Menschenrechte, die in Grundgesetz und UN-Menschenrechtskonvention (auch von der BRD ratifiziert) verbindlich verankert sind, von Politikern, Juristen und deren Helfern einfach ignoriert und übergangen werden, wenn es dem Zweck dienlich ist.

ViER.: Warum ist heute so wenig bekannt über dieses Modell?

Gärtner: Die Ideen und Prinzipien sowie die rechtlichen und steuerlichen Alleinstellungsmerkmale der Genossenschaft stehen teilweise im absoluten Gegensatz zu den Interessen des Staates nach totaler Kontrolle, Zugriff auf Privatvermögen und maximalen Steuereinnahmen. Da man Genossenschaften nicht so einfach verbieten kann, wird eben die öffentliche Aufmerksamkeit davon weggesteuert und das Wissen darüber klein gehalten und „versteckt“. Wie weit die genossenschaftlichen Rechtsprinzipien aus dem Bewusstsein der Menschen noch weiter verdrängt werden sollen, zeigt das folgende Beispiel: Das Institut für Genossenschaftswesen der Philipps-Universität Marburg wird getragen durch die dortige wirtschaftsrechtliche Fakultät. Hier studieren zukünftige Juristen, welche später Rechtsanwälte im Wirtschaftsrecht werden oder in unserer Wirtschaft Führungspositionen übernehmen wollen. Der geschäftsführende Direktor dieses Institutes, Prof. Dr. Sascha H. Mölls, musste im Oktober 2019 verkünden, dass in der juristischen Fakultät im Studienjahr 2019/2020 das letzte Seminar zum Genossenschaftsrecht stattfinden wird. Die letzte richtige Vorlesung zum Genossenschaftsrecht wurde in Marburg bereits vor vielen Jahren gelesen. Man muss also feststellen, dass Genossenschaftsrecht an den deutschen Universitäten gar nicht mehr gelehrt wird.

In den Ausbildungen zu „Steuerberufen“ spielen Informationen zur Genossenschaft als Unternehmensform schon längere Zeit nur eine minimale bis gar keine Rolle. In der Beratungspraxis erleben wir leider oft, dass sehr viele interessante Gründungsideen und Projekte in Genossenschaften an den Vorbehalten der Steuerberater mangels deren Kenntnis der rechtlichen und steuerlichen Zusammenhänge scheitern. Das gleiche Problem sehen wir in den Existenzgründerseminaren von deutschen IHK´s oder privaten Bildungsträgern. Hier wird über Rechtsformen wie Einzelkaufmann, GbR, UG und GmbH oder OHG und KG referiert, aber nicht über Genossenschaften.

Wir kommen wir und das Genossenschaftswesen in Deutschland aus dieser Misere wieder heraus? Nur durch Information unserer Mitbürger und durch Aneignung von Wissen in Theorie und Praxis. In Deutschland gibt es über 22,6 Millionen Menschen, die Mitglieder in Genossenschaften sind. Diese Gruppe ist groß genug und wächst täglich weiter. Diese Menschen sollten sich über ihre Macht und ihre Rechte klar werden und eine gemeinsame Bewegung entfalten. Damit die Genossenschaft auch in Deutschland wieder die Stellung in der Gesellschaft bekommt, die sie verdient hat.

Kay Gärtner (Jahrgang 1976) wurde in Sachsen geboren und lebt heute in der Oberlausitz. Nach Abitur und Wehrersatzdienst als Altenpfleger hat er Wirtschaftsingenieurwesen an TU Dresden studiert. Seit 2001 ist er als selbständiger Finanzmakler und Genossenschaftsberater tätig.

siehe auch: Gute Gründe für eine Genossenschaft