7. Juni 2022

Freiheit für Julian Assange jetzt!

Von Redaktion ViER.

Autorin: Marie Wasilewski

Am 3. Mai 2022, dem internationalen Tag der Pressefreiheit, war Julian Assange seit genau 1118 Tagen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London in Gefangenschaft. Die meiste Zeit davon in Isolationshaft. Die Autorin von der Initiative FreeAssange.eu erinnert daran. (Dieser Text ist in Ausgabe 3/22 des Magazins erschienen.)

Eine Mahnwache erinnert seit 2019 auch in Berlin, vor der US-Botschaft neben dem Brandenburger Tor, an Julian Assange (Fotos: Tilo Gräser)

Das Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh wird auch das „britische Guantanamo“ genannt. Dort hat Julian Assange, australischer Journalist und Gründer der Organisation „WikiLeaks“, eine Haftstrafe wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen seit September 2019 bereits abgesessen. Die britischen Behörden halten ihn dennoch weiterhin fest.

US-Behörden versuchen, den Australier Assange wegen so genannter „Spionage“ anzuklagen – dabei geht es um den Erhalt von geheimem Material. „WikiLeaks“ bekommt von Whistleblowern, die – aus guten Gründen – selbst anonym bleiben, Original-Daten über Themen von öffentlichem Interesse. Wie zum Beispiel Kriminalität und Korruption auf höchsten Ebenen. Hierbei ist ein Aspekt entscheidend: Bei den geleakten Daten handelt es sich nicht etwa um Material, das die „nationale Sicherheit“ betrifft und daher als geheim eingestuft ist. Vielmehr geht es dabei um Dokumente, die oft hoch-kriminelles Verhalten, beispielsweise Kriegsverbrechen, belegen. Ohne „WikiLeaks“ blieben diese Vergehen weiterhin vertuscht, und kein Mensch wüsste darüber Bescheid.

Bei den versuchten Anklagen der USA gegen Assange geht es u.a. um das Video „Collateral Murder“, das ein schweres Kriegsverbrechen der US-Armee dokumentiert. Die US-Behörden verlangen die Auslieferung des Journalisten und wollen ihn anklagen, weil er dieses und weiteres als geheim eingestufte Material entgegengenommen hat und dabei seine Quellen schützt. Das In-Empfang-Nehmen und Verarbeiten von vertraulichen Dokumenten und Quellenschutz ist aber selbstverständlicher Bestandteil jedes journalistischen Arbeitens, und es ist Grundvoraussetzung für qualitativ hochwertigen Journalismus.

Eine Anklage Assanges wegen dieses Sachverhalts würde nicht weniger bedeuten als das journalistische Arbeiten selbst zum Verbrechen zu erklären. Dies ist bekannt als „New York Times-Problem“, und war der gute Grund, aus dem die Obama-Regierung Assange nicht anklagte. Nicht so jedoch die Trump-Regierung. Und die Biden-Regierung setzt diese Farce fort. In den USA drohen dem Australier dafür bis zu 175 Jahre in einem so genannten „Supermax“- Gefängnis.

Menschenunwürdige Behandlung verschleiert

Nach verschiedenen unübersichtlichen und verwirrenden Etappen in dem hoch-komplexen „Verfahren“ gegen Assange ist der nächste wichtige Termin der 18. Mai 2022. An diesem Tag wird die britische Innenministerin Priti Patel den Auslieferungs-Entscheid befürworten – oder ablehnen, wozu sie theoretisch ebenso in der Lage ist. Sollte eine Auslieferung angeordnet werden, werden Assanges Anwälte dagegen in Berufung gehen. Damit wird das „Verfahren“ wieder um weitere Monate in die Länge gezogen. Für den WikiLeaks-Journalisten ein lebensbedrohlicher Zustand.

Durch die inzwischen mehr als elf Jahre andauernde politische Verfolgung und Zermürbung ist seine physische und psychische Gesundheit so massiv geschädigt, dass sein Leben auf dem Spiel steht. Der damalige UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, der Julian Assange 2019 kurz im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh besuchen konnte, warnt seitdem vor der Lebensgefahr, in der der Australier schwebt. In seinem Buch „Der Fall Julian Assange“ schildert Melzer eindrücklich die Zusammenhänge und Konsequenzen des Falls.

Schon allein von „Verfahren“ zu sprechen, wird dem brutalen Geschehen aber nicht gerecht, dem der Journalist ausgesetzt ist. Im medialen Mainstream schreibt wird von „juristischem Tauziehen“ oder einem „Rechtsstreit“ geschrieben. Dieses Framing verschleiert die Wahrheit. Was hier vor den Augen der Weltöffentlichkeit vor sich geht, ist der Abgesang der rechtsstaatlichen Justiz. Es handelt sich um „Lawfare“ – den Missbrauch von Justizverfahren, um einen politischen Gegner aus dem Weg zu räumen.

Politischer Prozess mit Folgen

Der „Prozess“ gegen Julian Assange ist von Grund auf politisch. Da in diesem Fall so viel auf dem Spiel steht – neben dem Leben von Julian Assange ist die Pressefreiheit im Kern bedroht, ebenso wie unsere bürgerlichen Freiheitsrechte – sind jede und jeder Einzelne hier gefragt, aktiv zu werden, aufzustehen und der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen.

Der Leiter der britischen Kampagne „Don’t Extradite Assange“ (DEA-Campaign), John Rees, weist auf die enorme Bedeutung des politischen Aktivismus hin. Auch Schauprozesse gegen Dissidenten finden nicht im luftleeren Raum statt. Richter und Richterinnen, Gefängnisdirektoren und politische Entscheidungsträger agieren vor dem Hintergrund der öffentlichen Meinung und Wahrnehmung. Assanges Angehörige betonen: Alles, was zwischen Assange und seinem sicheren Tod in den USA steht, ist der Druck der Öffentlichkeit.

Das Gewicht der öffentlichen Meinung lässt sich an vielen Faktoren ablesen – unter anderem an der immer schärfer werdenden Zensur, die auf vielen Social Media-Plattformen immer groteskere Ausmaße annimmt. Der Punkt dabei ist: Hätte die öffentliche Meinung für die Mächtigen keine Bedeutung, würde man sich nicht die Mühe machen, bestimmte Ansichten zu unterdrücken und damit die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Jede einzelne Stimme ist wichtig

Eine der mächtigsten Waffen der Herrschenden ist der weit verbreitete Glaube, ein Einzelner könne nichts bewirken. Viele politische Aktivisten wissen: Das ist höchst brisanter Aberglauben. Die Stimme einer einzelnen Person kann eine immense Wirkung entfachen. Edward Snowden drückt dies so aus: Eine Stimme, deine Stimme, kann die Welt verändern. Er weiß, wovon er spricht. Ebenso wie Assange.

Vor der US-Botschaft in Berlin

In Deutschland hat sich eine sehr aktive Bewegung entwickelt, die „WikiLeaks“ und deren Gründer unterstützt. In vielen Städten gibt es regelmäßige Veranstaltungen und Mahnwachen, die die Öffentlichkeit informieren und auf die Bedeutung des Falles aufmerksam machen. Darüber hinaus gibt es viele weitere gemeinsame Aktionen. Im Internet sind auf www.freeAssange.eu Termine und Aktions-Ideen zu finden.

Am 23. April trafen sich viele Aktivisten in Brüssel bei einer großen „Free Assange“-Veranstaltung, bei der unter anderem Assanges Ehefrau Stella Moris-Assange anwesend war. Genau einen Monat zuvor, am 23. März, hatten die beiden endlich heiraten dürfen, nachdem sie vorher etwa anderthalb Jahre um die Erlaubnis dafür hatten kämpfen müssen. Bei der Veranstaltung in Brüssel sprachen außerdem u.a. Jeremy Corbyn, der Europa-Abgeordnete Martin Sonneborn (Die Partei) und der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Partei Die Linke).

Baerbocks vergessene Forderung

Hunko, der „WikiLeaks“ von Anfang an unterstützte, sprach die Bedeutung Europas in diesem Fall an. Trotz Brexits ist Großbritannien weiterhin Mitglied im Europarat und an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Nach einem Gang durch alle Instanzen in Großbritannien kann der Fall von Assange somit letztendlich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen. Hunko sieht gute Chancen für den Journalisten, dort Recht zu bekommen. Dies nimmt aber viel Zeit in Anspruch, und der Gesundheitszustand des Australiers ist enorm schlecht und akut gefährdet.

Europa-Parlamentarier Sonneborn wandte sich in seiner Rede direkt an drei Politiker – US-Präsident Joe Biden, die britische Innenministerin Priti Patel und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock. Er forderte Biden und Patel auf, Assange freizulassen, wozu beide theoretisch jederzeit in der Lage sind.

Der Parlamentarier erinnerte außerdem die deutsche Außenministerin an ihre eigenen Worte: Am 14. September 2021, knapp zwei Wochen vor der Bundestagswahl, hatte Baerbock auf www.abgeordnetenwatch.de noch die sofortige Freilassung von Julian Assange gefordert.

Ein paar Monate nach der Bundestagswahl, im Februar 2022, erklärte dann das Auswärtige Amt: „Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und des Vorgehens der britischen Justiz zu zweifeln.“ Nicht nur im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit von Baerbock wirft dies äußerst bedenkliche Fragen auf. Hier stellen sich zahlreiche weitere Fragen: Ist es rechtsstaatlich, die Öffentlichkeit inklusive NGOs wie Amnesty International, Human Rights Watch und Reporter ohne Grenzen von einem Verfahren von allerhöchster gesellschaftlicher Relevanz systematisch auszuschließen? Für die Öffentlichkeit standen immer weniger Plätze zur Verfügung, zuletzt gerade noch drei bis fünf Plätze. Online-Zugänge wurden kurz vor Anhörungs-Beginn willkürlich widerrufen. Bei jeder einzelnen Anhörung gab es gravierende technische „Fehlfunktionen“.

Fragwürdiges Rechtsstaatsverständnis

Ist es rechtsstaatlich, dass Assange bei Besprechungen mit seinen Anwälten systematisch abgehört und überwacht wurde, dass seine vertraulichen Gespräche mit seinen Anwälten aufgezeichnet und der Gegenseite zur Verfügung gestellt wurden? Ist es rechtsstaatlich, wenn der Haupt-Belastungszeuge der Gegenseite, ein Krimineller namens Sigurdur Thordarson, öffentlich zugibt, mit seinen Anschuldigungen gegen Assange gelogen zu haben, und das Verfahren dennoch nicht eingestellt wird, sondern einfach weitergeht?

Ist es rechtsstaatlich, dass die zuständige Richterin Emma Arbuthnot nachgewiesenermaßen befangen ist und dennoch nicht zurücktritt, sondern den Auslieferungs-Prozess weiter beaufsichtigt? Ist es rechtsstaatlich, dass der Bezirksrichter Michael Snow im Frühjahr 2019 Assange ohne jeden Kontakt oder Gespräch mit ihm als „Narzissten“ bezeichnet und ihn innerhalb von 15 Minuten aburteilt? Ist es rechtsstaatlich, dass Assange als sog. Präventionsmaßnahme im Hochsicherheitsgefängnis gehalten wird und zwar in Isolationshaft?

Ist es rechtsstaatlich, einen politischen Gefangenen durch zahllose Schikanen zu zermürben, so durch mehrfach tägliches Röntgen vor und nach seinen Anhörungen, stundenlange Transporte in einer Art aufrecht stehendem abgedunkelten Sarg, so genannte „Hot Box“-Prozeduren, mehrfach tägliches Entkleiden und Nackt-Durchsuchen, mehrfaches Verschieben von Zelle zu Zelle in der Nacht vor den Anhörungen, massives Erschweren des Kontakts zu Anwälten und Angehörigen, Verwehrung seiner juristischen Unterlagen oder des Zugangs zu juristischer Fachliteratur?

Tatsächliche Verbrechen bleiben ungesühnt

Ist es rechtsstaatlich, die Stimmen sämtlicher Organisationen für Pressefreiheit und Menschenrechte zu ignorieren, die die sofortige Freilassung von Assange fordern, ebenso wie verschiedene Vertreter der Vereinten Nationen, der UN-Sonderberichterstatter über Folter, die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen und der UN-Sonderberichterstatter zum Recht auf Privatsphäre, um nur einige zu nennen? Und ist es überhaupt rechtsstaatlich, einen Journalisten anzuklagen wegen der Aufdeckung von Kriegsverbrechen, die Verantwortlichen für ebendiese Kriegsverbrechen dahingegen nicht zu verfolgen?

Wenn deutsche Regierungspolitiker all dies für rechtsstaatlich halten – was bedeutet das für uns Bürger, die wir die praktischen Resultate dieses Rechtsstaatsverständnisses täglich zu spüren bekommen und uns von diesen Menschen regieren lassen? Wer die Idee der Rechtsstaatlichkeit auch nur halbwegs ernst nimmt, kann nur klar und deutlich fordern: Freiheit für Julian Assange, jetzt!

FreeAssange.eu ist eine überparteiliche bundesweite Bewegung von Menschen, die sich gemeinsam für Pressefreiheit und die Freiheit des politisch verfolgten Journalisten Julian Assange engagieren. Interessierte sind herzlich willkommen. Informationen und Termine auf www.freeAssange.eu