1. August 2022

Wie die USA ihre globale Dominanz sichern wollen – US-Ökonom Michael Hudson im Exklusiv-Interview

Von Redaktion ViER.

Der Konflikt zwischen dem US-dominierten Westen und Ländern wie Russland und China hat etwas mit unterschiedlichen Wirtschaftsorientierungen zu tun, sagt der Ökonom Michael Hudson. Im Interview erklärt er das genauer und geht er unter anderem auf den Ukraine-Krieg ein. (Vollständige Fassung)

Prof. Michal Hudson im Januar 2019 auf der "Rosa-Luxemburg-Konferenz" der Tageszeitung "junge Welt" in Berlin (Fotos: Tilo Gräser)

Professor Hudson, Ihr neues Buch „The Destiny of Civilization“ (dt.: „Das Schicksal der Zivilisation“) ist ein Aufsatzband über den Finanzkapitalismus, der Ihre geopolitische Perspektive darstellt. Sie sprechen darin von einem bereits lang andauernden, ideologischen und materiellen Konflikt zwischen finanzkapitalistischen und deindustrialisierten Ländern wie den USA einerseits gegen „gemischte Volkswirtschaften“ wie China und Russland andererseits. Worum geht es in diesem Konflikt?

Der heutige globale Bruch spaltet die Welt in zwei unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien: Im Westen sehen wir die – wie ich es nenne – USA-/Nato-Dominanz. Das sind deindustrialisierte Länder, in denen der Finanzkapitalismus die Volkswirtschaften langsam aushöhlt. Auf der anderen Seite sehen wir in Eurasien stabile Produktionsketten, unter Führung vor allem durch China, Indien und andere asiatische Länder in Verbindung mit Russland, das durch Rohstoffe und Waffen die Grundlage für diese Entwicklung im Osten liefert.
Die Länder im Osten stellen eine grundlegende Erweiterung des industriellen Kapitalismus dar, der sich meiner Meinung nach Richtung Sozialismus entwickelt. Das heißt, dort entstehen gemischte Volkswirtschaften mit starken staatlichen Infrastrukturinvestitionen, um – so zumindest die Idee – Bildung, Gesundheitsversorgung, Transport und andere Grundbedürfnisse für die Bevölkerung bereitzustellen. Der Staat tritt als öffentliches Versorgungsunternehmen auf und versucht, diese Bedürfnisse durch Subventionen oder kostenlose Dienstleistungen zu befriedigen.
Im Gegensatz dazu wird im neoliberalen US-/Nato-Westen diese Basisinfrastruktur als rentables, natürliches Monopol privatisiert. Das Ergebnis ist, dass der Westen als Hochkostenwirtschaft im internationalen Wettbewerb zurückfällt. Seine Ausgaben für Wohnen, Bildung und Medizinversorgung sind zunehmend schuldenfinanziert, wodurch immer weniger persönliche und privatgeschäftliche Einkommen und Vermögen übrigbleiben, die als Kapital in neue Produktionsmittel investiert werden könnten. Genau das stellt den westlichen Finanzkapitalismus vor ein existenzielles Problem: Wie kann er den Lebensstandard angesichts von Deindustrialisierung, Inflation, Schuldendeflation und Gewinnstreben im Finanz- und Spekulations-Sektor aufrechterhalten? Wie kann er diesen Prozess aufhalten, der die 99 Prozent der Bevölkerung verarmt, um das eine Prozent noch reicher zu machen? Hier sehe ich eine gefährliche Polarisierung der Gesellschaft. Es bleibt die Frage: Wie kann der Westen als dominierendes Wirtschaftssystem überleben?

Was ist Ihre Antwort?

Nun: Das erste US-Ziel ist es, Europa und Japan davon abzuhalten, eine blühendere Zukunft für sich selbst zu suchen. Denn die USA haben ein Problem: Wenn China und Russland, der Iran und Indien immer schneller wachsen, dann ist die Frage für Deutschland und andere europäische Länder natürlich folgende: „Wie können wir mit den Ländern im Osten Handel treiben und Gewinne erzielen, indem wir in sie investieren? Wie können wir gegenseitige Handels- und Investitionsverbindungen zu unserem beiderseitigen Vorteil schaffen?“
Sollte dies geschehen, wo bleiben die USA dann? Washington fühlt sich von Erfolgen anderer Länder bedroht, denn deren Erfolg bedeutet gleichzeitig ein US-Problem: Wie erwirtschaften die Vereinigten Staaten weiterhin Geld aus Europa und den anderen Ländern? Das ist das existenzielle Problem des westlichen Finanzkapitalismus. Dieses Ziel der USA besteht darin, Europa und Japan davon abzuhalten, durch engere Handels- und Investitionsbeziehungen mit Eurasien, der „Shanghai Cooperation Organization“ (SCO) und den BRICS-Staaten eine wohlhabendere Zukunft anzustreben.
Vor dem Hintergrund des Stellvertreterkriegs in der Ukraine versuchen die USA, ihre „Satellitenwirtschaften“ Europa und Japan in ihrer Einflusssphäre zu halten. Um dies zu erreichen, pochen US-Diplomaten auf eine neue wirtschaftliche Sanktionsmauer, um den Handel zwischen Ost und West zu blockieren. Viele Jahrzehnte lang hat sich die US-Diplomatie in die europäische und japanische Innenpolitik eingemischt und pro-neoliberale Beamte in der Regierungsführung gesponsert. Diese Beamten haben das Gefühl, dass ihr politisches Schicksal und auch ihr Privatvermögen eng mit der US-Führung verbunden ist.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte vor einigen Wochen im Rahmen einer Uno-Abstimmung, dass US-amerikanische Diplomaten in den Gängen des UN-Gebäudes in New York versuchen würden, ihren Verbündeten kostenlose Bildungs- und Schulprogramme in den USA für deren Kinder anzubieten. Hinzu kämen Angebote zur persönlichen Nutzung von Offshore-Konten für das eigene Vermögen. Das meine ich mit Sponsoring. Wir sehen, wie die USA Millionen und Abermillionen von Dollar an den Kiewer Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Offshore-Konten gegeben haben, was die Panama Papers belegen. Um nämlich sicherzustellen, dass Selenskyj genau das tut, was die USA ihm sagen.
Mittlerweile ist die europäische Politik im Wesentlichen zu einer Nato-Politik geworden. Die USA kontrollieren die Nato, und die Nato kontrolliert Deutschland sowie andere europäische Regierungen. Nicht Europa als solches, sondern die EU-Regierungen hindern offensichtlich die eigene Wirtschaft und die eigenen Verbraucher daran, vom gegenseitigen Handel mit China, Russland und dem Rest Asiens zu profitieren.

Das ist mehr als ein West-Ost-Konflikt. Wie sieht das im globalen Süden aus?

Das Problem für die USA besteht darin, den globalen Süden – Lateinamerika, Afrika und viele Länder Asiens – im eigenen Orbit zu halten. Genauso wie sie Deutschland im Orbit halten. Die neuen Sanktionen gegen Russland beeinträchtigen die Handelsbilanzen dieser Länder, indem sie die Öl-, Gas- und Lebensmittelpreise sowie die Preise für viele Metalle stark haben ansteigen lassen. Alles Rohstoffe, die der Westen importieren muss. Unterdessen zeigen steigende US-Zinsen negative Auswirkungen auf die finanziellen Ersparnisse der Menschen. Betroffen sind auch Bankkredite und auf US-Dollar ausgestellte Wertpapiere. Diese Entwicklung verschärft außerdem den Druck auf den kriselnden Euro.
Wie sollen Länder in Afrika und Lateinamerika diese höheren Öl- und Gas-Preise, die erhöhten Zinsen bei der Schuldenabtragung sowie höhere Nahrungsmittelkosten stemmen? Es wird für sie immer teurer, mit ihrer eigenen Währung noch mehr Dollar zu kaufen. Wir sehen in diesem Bereich einen Engpass in der Zahlungsbilanz für viele Staaten in Lateinamerika und Afrika. Eskalieren wird es voraussichtlich in diesem Sommer oder im Frühherbst, wenn diese Länder eine Wahl treffen müssen: Wie wollen sie Energie und Lebensmittel importieren, ihre Bevölkerung versorgen – und gleichzeitig ihre Gläubiger und die Banken bedienen?
Dies alles sind einige Kollateralschäden und Folgen des Stellvertreterkrieges in der Ukraine. Wahrscheinlich führen diese Entwicklungen zu einer kurzzeitigen Wertsteigerung des Dollars, weil aktuell Geld aus Europa und dem globalen Süden ab- und in Staatsanleihen des US-Aktienmarktes hineinfließt.
Diese Länder stehen vor der Wahl: Entweder auf Energie und Nahrung verzichten, um ausländische Gläubiger zu bezahlen – und damit internationale Finanzinteressen über ihr eigenes wirtschaftliches Überleben zu stellen. Oder mit ihren Schulden in Verzug geraten. Im Vergleich dazu haben Russland und China jedoch einen Vorteil. Sie können sagen: „Wir haben jede Menge Nahrungsmittel und Rohstoffe. Wir können Euch, den Westen, versorgen. Aber Ihr müsst dafür bezahlen. Ihr habt auch das Geld, um es zu bezahlen. Ihr bezahlt uns in bar. Aber dann könnt Ihr Eure Dollarschulden im Ausland nicht mehr bedienen. Im Endeffekt werden wir unsere eigene Version des Internationalen Währungsfonds (IWF) erstellen. Aber es wird ein zivilisierter IWF sein, eine zivilisierte Weltbank. Institutionen, die den Ländern tatsächlich helfen, sich zu entwickeln.“
Solche Entscheidungsmöglichkeiten verängstigen Washington zutiefst. Daher muss es Russland und China jetzt stoppen. Also genau jene Entwicklung stoppen, die andere Länder außerhalb des finanzkapitalistischen Systems der Vereinigten Staaten nutzen könnten.

Der Krieg in der Ukraine ist aus Ihrer Sicht ein Stellvertreterkrieg. Welche wirtschaftlichen Folgen bringt dieser Konflikt mit sich?

Russland hat die russischsprachige Ostukraine und die südliche Schwarzmeerküste militärisch gesichert. Die Frage ist, was wird die Nato tun? Wird sie weiterhin durch Sabotage und neue Angriffe den „Bären ärgern“? Die US-Regierung hat bereits gesagt: „Egal was passiert, wir werden der Ukraine weiterhin Waffen schicken.“ Also kämpfen die Ukrainer weiter. Jeder Ukrainer, der stirbt, muss mindestens eine Kugel einstecken. Denken Sie nun an die hunderttausenden Ukrainer, die vom Krieg betroffen sind. Letztlich werden so der Verbrauch und Verkauf von Munition und Material angekurbelt.
Das ist eine Materialschlacht, ähnlich wie im Ersten Weltkrieg. Im Prinzip haben viele Nato-Staaten jetzt die Möglichkeit, ihre alten und kaum noch brauchbaren Waffen-Systeme an die Ukraine zu verhökern. Und dann sagen die USA: „OK, Europa. Nun, da Ihr Eure obsoleten Waffen abgegeben habt – könnt ihr ja neue, bessere und modernere Waffen-Systeme bei uns kaufen, um diese zu ersetzen.“ Dieser Mechanismus stärkt auch kurzfristig den US-Dollar gegenüber dem Euro. Anstatt, dass Europa weiter Investitionen mit Russland tätigt, wird so die europäische Abhängigkeit zur US-Dominanz noch weiter vertieft.

Zu den neuen Sanktionen gegen Russland und deren Folgen gibt es widersprüchliche Einschätzungen. Was denken Sie?

Ich sehe tatsächlich einen Niedergang des Westens. Aber er versucht, seinen eigenen Untergang zu verhindern – indem er versucht, den Niedergang Eurasiens heraufzubeschwören. Um es kurz zu machen: Um China in kleinere Staaten zerbrechen zu können, muss der Westen zunächst erst einmal Russland in kleinere Teile zerstückeln. Oder zumindest die Schlagkraft des russischen Militärs verringern und dessen Anbindung an China stören. Es gibt diese Pläne im US-Außenministerium seit Langem, Russland in viele kleine Staaten zu zerteilen – ein West-Russland, einen Kleinstaat Moskau/Sankt Petersburg, Süd-Russland und Sibirien. Sollte dies nicht gelingen, so die Sorge in Washington, bleiben große Länder wie Russland „Magneten“ bzw. attraktive Anziehungspunkte für den Welthandel und europäische Investoren. Und die USA verlieren dann immer weiter an Boden.
Die einzigen Rohstoffe und Güter, die die Vereinigten Staaten nennenswert in die Welt exportieren, sind: heimisches Erdöl und durch US-Konzerne im Ausland kontrolliertes Öl, Nahrungsmittel sowie Landwirtschaftsprodukte – und vor allem Waffen. Darauf verlassen sich die USA seit Jahren, deshalb gibt es dort keinen echten Prozess der Industrialisierung mehr.
Die Sanktionen gegen Russland wurden in der Hoffnung verhängt, die Lebensbedingungen der Russen so unangenehm zu machen, dass sie auf einen Regimewechsel drängen würden. Dass sie nach einem neuen Boris Jelzin schreien würden. Doch das ist nur Fantasie im US-Außenministerium. In Wirklichkeit ist der gegenteilige Effekt eingetreten. Die öffentliche Unterstützung für Putin ist in der russischen Gesellschaft sogar gestiegen. Diese erkennt, dass es in Amerikas Interesse liegt, das russische Alltags- und Wirtschaftsleben erheblich zu stören. Und die Russen wissen um die barbarischen Taten diverser Neonazi-Gruppen im Umfeld der ukrainischen Regierung, die von den USA unterstützt wird.
Die US-Sanktionen gegen Russland haben dazu geführt, einen neuen politischen und wirtschaftlichen „Eisernen Vorhang“ zu errichten, der die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten noch vergrößert, während Russland zu China hingetrieben wird – anstatt beide auseinander zu treiben. Das ist das Verrückte an der heutigen US-Außenpolitik. Unterdessen drohen die Kosten der europäischen Sanktionen gegen russisches Öl und Lebensmittel zu explodieren – sehr zum Vorteil US-amerikanischer Gaslieferanten und Agrar-Exporteure. Außerdem wird somit längerfristig politischer Widerstand in Europa gegen die unipolare globale Strategie der USA nachhaltig geschwächt.

In Deutschland spricht der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck vom „Notfallplan Gas“ im Bund und bittet die Emirate um Rohstoffe. Wir erleben das Ende von Nord Stream 2, obwohl Europa auf russische Ressourcen angewiesen ist. Wie spielt das alles zusammen?

Tatsächlich fordern US-Beamte Deutschland dazu auf, wirtschaftlichen Selbstmord zu begehen und eine Depression, höhere Verbraucherpreise und einen niedrigeren Lebensstandard herbeizuführen. Deutsche Chemie-Unternehmen haben bereits damit begonnen, ihre Düngemittelproduktion einzustellen, da Berlin Handels- und Finanzsanktionen akzeptiert, die es daran hindert, russisches Gas – auch als Rohstoff für die meisten Düngemittel – zu kaufen. Deutsche Auto-Konzerne leiden unter Lieferengpässen und unterbrochenen Lieferketten. Anstatt der russischen oder chinesischen Volkswirtschaft zu schaden, treffen die Sanktionen die deutsche und europäische Wirtschaft selbst viel härter.
Doch für die Vereinigten Staaten sind diese wirtschaftlichen Engpässe in Europa ein großer Vorteil. Sie können so enorme Gewinne mit höheren Ölpreisen erzielen. Mit Erdöl, das größtenteils von US-Unternehmen kontrolliert wird, gefolgt von britischen und französischen Mineralöl-Konzernen. Ebenfalls ein Segen für den militärisch-industriellen Komplex der USA sind Waffen, die Europa der Ukraine gespendet hat. Die Profite für Rüstungskonzerne steigen sprunghaft an.
Aber die USA geben solche wirtschaftlichen Gewinne nicht nach Europa zurück, etwa durch Investitionen. So haben es die Europäer immer schwerer, die steigenden Preise für Erdöl und Lebensmittel zu bezahlen. Arabische Öl-Produzenten haben bereits US-Forderungen zurückgewiesen, weniger für ihr Erdöl zu verlangen. Es gab kürzlich ein Treffen zwischen den Staaten der BRICS und der SCO. Es ging um eine Erweiterung der BRICS-Organisation, einschließlich Argentinien und anderer Länder. Der Iran ist da ein weiterer Kandidat. Die arabischen Länder sehen ihre Zukunft dort und wollen an östliche Partner festzuhalten, die Öl für die eigene industrielle Entwicklung nutzen. Die Araber sagen öffentlich, ihre Zukunft liegt in Russland und China.
Die Berliner Regierung hat getan, was die Nato ihr aufgetragen hat. Sie kann nun russisches Öl und Gas nicht mehr so ​​einfach importieren. Das Vertrauensverhältnis ist gestört. Versicherungen haben aufgehört, Schiffe und Tanker im Schwarzen Meer zu versichern. Und Europa versucht sich dennoch weiterhin einzureden, damit zurechtzukommen und sagt: „Wir leiden eben, aber immerhin ohne russische Rohstoffe“. Dieses Verhalten widerspricht jeder diplomatischen Logik, dass man die Interessen seines eigenen Landes vertritt. Aber das ist heute Realität. Deutschland vertritt keine nationalen Interessen mehr. Deutsche Politiker agieren im Interesse der USA. Die Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahren die neoliberale Agenda stark vorangetrieben. Zuvor gab es die Prägung und den US-Einfluss im Kalten Krieg. Jede politische Partei in Deutschland folgt diesem Weg. Die dortige Wirtschaft und Öffentlichkeit finden dazu leider keine Alternative.
Der Stopp von Nord Stream 2 ist in Wirklichkeit eine „Kauft-nur-Amerikanisch“-Politik. Es geht nicht nur darum, Europa von russischem Öl abzutrennen. Jetzt ist Europa auf Flüssiggas (LNG – Liquified Natural Gas) aus den USA angewiesen. Die Vereinigten Staaten verlangen teilweise bis zu sieben Mal höhere Preise für ihr Gas als Russland. Dazu kommen noch die angeblich fünf Milliarden US-Dollar für den Ausbau von LNG-Hafenkapazitäten – selbst, wenn diese erst in einigen Jahren technisch verfügbar sein werden. Die USA bitten also die EU darum, einige Jahre praktisch ohne Gas und Öl auszukommen.
Stellen Sie sich das mal vor: Europa kauft US-Energierohstoffe zu überzogenen Preisen. Und Russland, China, Indien und ähnliche Länder können ihren Strom, ihre Energie zu viel günstigeren Konditionen erzeugen. All das stärkt auch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dieser Staaten. Außerdem: Wie soll Europa vor diesem Hintergrund seine Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten?
Damit droht den Deutschen und den Europäern eine sehr unbequeme Zwischenperiode in den nächsten Jahren. Betroffen werden alle Länder sein, die dem US-Diktat folgen. Im Grunde sind die dortigen nationalen Parlamente der Nato untergeordnet, deren Politik von Washington aus gesteuert wird. Ein Preis, den Europa zahlen wird, ist der fallende Euro-Wechselkurs gegenüber dem Dollar. Anleger werden wahrscheinlich ihre Ersparnisse und Investitionen aus Europa abziehen und in die Vereinigten Staaten verlegen, um Kapitalgewinne zu maximieren und Kursrückgänge für ihre in Dollar gehaltenen Aktien bzw. Anleihen zu vermeiden.

Welche Rolle spielen der neue Kalte Krieg sowie der neoliberale Finanzkapitalismus im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine?

Das ist der Ur-Konflikt: Entweder werden gemischte Ökonomien – „sozialistisch“, industrialisiert, kapitalistisch – gewinnen. Oder die neoliberale Rentierwirtschaft Amerikas, ohne Industrie und ohne echte Arbeiterklasse, wird siegen. Der US-/Nato-Krieg in der Ukraine ist die erste Schlacht in einem langjährigen Versuch, das westliche Dollargebiet von Eurasien und dem globalen Süden zu isolieren. US-Politiker haben bereits angekündigt, den Ukraine-Krieg „auf unbestimmte Zeit“ fortzusetzen.
Die USA haben die Hoffnung, dass die Ukraine das „neue Afghanistan“ für Russland werden könnte. Aber diese Taktik scheint nicht aufzugehen. Es ist ein Stellvertreterkrieg, dessen Effekt darin besteht, die Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten als „Klienten-Oligarchie“ zu zementieren, mit dem Euro als Satellitenwährung des US-Dollars.
Die Frage ist: Können die Europäer wirklich selbst entscheiden, wie lange sie den USA noch folgen? Der politisch einzig „vernünftige“ Weg wäre ein Beitritt zu den USA. Deutschland und Frankreich wären dann US-Bundesstaaten. Ansonsten zahlt Europa wie bisher, ohne mitbestimmen zu dürfen. Die Menschen in Europa haben keine Vertretung. Sie haben keine unabhängige Außenpolitik, die ihre eigenen Interessen vertritt.
Die europäische Außenpolitik wird von der Nato diktiert. Dies geschieht durch Beeinflussung der führenden Parteien Europas. Durch bekannte Methoden wie Bestechung, Erpressung, Drohungen oder Überwachung. Um eben zu verhindern, dass Europas Politiker auch nur irgendetwas tun, was nicht von den Entscheidern der USA abgesegnet ist.
Die US-Diplomatie versucht, Russland auf drei Arten zu schaden. Die erste Taktik der USA war es, die Russen finanziell zu isolieren, indem sie das Land aus dem Swift-Bankenclearing-System ausgeschlossen haben. Das hat nicht so recht funktioniert, denn das Ziel des Westens wurde verfehlt. Russland reagierte darauf mit einem reibungslosen Übergang zum Bankenclearing-System Chinas. Das Einzige jedoch, was passiert ist: Die Spaltung der Welt in zwei antagonistische Finanz-Blöcke wurde noch weiter und schneller vorangetrieben.
Die zweite Taktik bestand darin, russische Kapitaleinlagen bei US-Banken zu beschlagnahmen und diese US-amerikanischen sowie europäischen Finanzwertpapieren und Fonds zuzuführen. Mit diesem beschlagnahmten Kapital wurde dann die Ukraine oder beispielsweise die Opposition in Venezuela unterstützt. Russland reagierte, indem es einfach US-amerikanische und europäische Investitionen im eigenen Land billig aufkaufte, während der Westen diese abwarf. Es schnappte sich also im Gegenzug daheim amerikanische und deutsche Investitionen und Unternehmen. Die Folge: Deutschland verliert den russischen Markt dauerhaft, als Investitionspartner und als Exportmarkt.
Die dritte US-Taktik bestand darin, Nato-Staaten am Handel mit Russland zu hindern. In der Konsequenz sind russische Importe aus dem Westen zurückgegangen, während die russischen Öl-, Gas- und Lebensmittel-Exporte in die Höhe schnellten. Das hat den Wechselkurs des Rubels gestärkt, anstatt ihm zu schaden. Da die Sanktionen die westlichen Importe Russlands blockieren, hat Präsident Wladimir Putin bereits angekündigt, dass seine Regierung weiter stark in die Import-Substitution investieren wird. Russlands Wirtschaft arbeitet bereits seit Jahren intensiv daran, jene Güter selbst herstellen zu können, die sie zuvor aus dem Westen importieren musste.
Die Folge für europäische Anbieter und Exporteure wird der dauerhafte Verlust russischer Märkte sein. Und Europa kann diesen weggebrochenen Markt nicht einfach ersetzen. Auch nicht durch den US-Markt. Unterdessen bleiben die Trump-Zölle gegen europäische Exporte in den USA weiterhin in Kraft, was der Industrie in Europa schrumpfende Einnahmen beschert.
Die US- und Nato-Sanktionen gegen Russland sind tatsächlich auf lange Sicht gegen Deutschland und Europa gerichtet. Das ist das, was die Europäer und besonders die Deutschen endlich begreifen sollten. Sie scheinen nicht zu verstehen, dass sie die hauptsächlichen Opfer in diesem US-geführten Wirtschaftskrieg um Energie, Nahrung und finanzielle Vorherrschaft sind.

Der Sozialismus ist ein wichtiges Thema in Ihrem neuen Buch. Ist der Sozialismus heute noch eine gute und praktische Alternative für die Welt?

Vor einem Jahrhundert wurde erwartet, dass die Endstufe des Industriekapitalismus der Sozialismus sei. Es gab viele verschiedene Arten von Sozialismus: Staatssozialismus, marxistischer Sozialismus, christlicher Sozialismus, anarchistischer Sozialismus, libertärer Sozialismus. Aber was nach dem Ersten Weltkrieg geschah, war die Antithese zum Sozialismus. Der Finanzkapitalismus war entstanden. Und es war ein militarisierter Finanzkapitalismus. Der ursprüngliche Kapitalismus entstand im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Doch dann geschah urplötzlich ein Wandel, hin zum Finanzkapitalismus und zum militarisierten Finanzkapitalismus, unter Begleitung der Entstehung sogenannter „freier Märkte“.
Der gemeinsame Nenner aller sozialistischen Bewegungen – vom rechten bis zum linken politischen Spektrum – waren höhere staatliche Infrastrukturausgaben. Der Übergang zum Sozialismus wurde in den Vereinigten Staaten und Deutschland vom Industriekapitalismus selbst angestoßen. Dieser frühe Kapitalismus versuchte ursprünglich, die Lebenshaltungskosten und damit den existenzsichernden Grundlohn zu sichern sowie die Kosten für staatliche Investitionen in grundlegender Infrastruktur – Bildung, Transport, Gesundheitswesen usw. – zu tragen. Dienstleistungen sollten kostenlos oder zumindest zu subventionierten Preisen erbracht werden.
Die ganze Idee dahinter war, dass die Regierungen für die industriellen kapitalistischen Arbeitgeber die Produktionskosten senken wollten. Nun, das ist allerdings nicht das, was später passiert ist. Insbesondere seit den 1980er Jahren, als die Privatisierung vorangetrieben wurde. Privatisierung ist die Antithese zum Sozialismus. Und sie erhöht die Kosten. 18 Prozent des US-amerikanischen BIP werden für die Gesundheitsversorgung ausgegeben. 43 Prozent der US-Löhne werden für Mieten bzw. das Wohnen ausgegeben, verglichen mit Deutschland, wo nur durchschnittlich 10 Prozent der Löhne in die Miete fließen. Der Finanzkapitalismus bringt am Ende hochpreisige und kostspielige Gesellschaften hervor. Das Ergebnis ist das neoliberale Europa und Amerika, die bei ihren hohen Produktionspreisen nicht in der Lage sind, mit Ländern zu konkurrieren, die sozialistische Strategien anstelle eines „finanzialisierten“ Neoliberalismus verfolgen.
Dieser Gegensatz in den Wirtschaftssystemen ist der Schlüssel zum Verständnis des heutigen globalen Bruchs der Welt, über den ich eingangs sprach. Doch das kann kaum das Endstadium des Industriekapitalismus sein. Das sieht nach einem Rollback in Richtung Feudalismus aus. Ich sehe einen erstarkenden „Industrie-Sozialismus“ in Asien im Vergleich zu einem gescheiterten Neo-Feudalismus in Europa und den USA.

Das tatsächliche Problem für die deindustrialisierten USA scheint nach Ihren Worten dies zu sein: „Der einzige Weg, Wohlstand und Reichtum zu erschaffen, ist – wenn man ihn nicht selbst kreieren kann – diesen aus dem Ausland abzusaugen.“ Wie sieht Washingtons Strategie aus?

Mein Buch „Super Imperialism“ erklärt, wie sich die USA in den letzten 50 Jahren – seit im August 1971 der Goldstandard beendet worden war – den Dollar als Weltleitwährung zu Nutze machten, um eigenen Wohlstand auf Kosten anderer Staaten zu generieren.
Ein Beispiel: Wenn Deutschland mehr Waren in die USA exportiert, bezahlen die amerikanischen Firmen diese Einkäufe in Dollar. Die deutschen Unternehmen übergeben dieses Geld dann der Zentralbank, um es in Euro umtauschen zu lassen. Und dann hat die Europäische Zentralbank ein Problem: Was tun mit all diesen Dollarbeständen? Nun, sie kauft US-Staatsanleihen. Also schickt sie dieses Geld zurück in die USA. Das stabilisiert zwar den Wechselkurs, aber das bedeutet auch: Deutschland finanziert so seither den US-Militärhaushalt – und das weltweit. Der Dollarstandard zwingt Deutschland, Europa und jedes Land, das Dollar erhält, seine Ersparnisse an die USA weiterzugeben. Washington wiederum sieht keine Veranlassung, all dies zu ändern oder für die entstehenden Kosten aufzukommen.

Für einige Staaten ist es mittlerweile zu unsicher geworden, US-Dollar in den eigenen Devisenreserven zu halten. Das US-Schatzamt schnappte sich vor einiger Zeit Venezuelas Dollar-Einlagen. Sie schnappten sich die Dollar-Bestände aus Afghanistans Einlagen. Sie schnappten sich russische Devisenreserven. Aber kann Amerika dies weiterhin tun, in einer veränderten und zugespitzten Weltlage? Denn all das stört das Wirtschaftsleben, wie Sie bereits sehen. Wie etwa Störungen durch steigende Ölpreise und die Covid-19-Ausbreitung.
Das ist die Herausforderung der US-Außenpolitik. Auf die eine oder andere Weise zielt sie darauf ab, Europa zu bevormunden und andere Länder zu Wirtschaftssatelliten zu machen. Diese Ausbeutung ist vielleicht nicht so eklatant wie die Übernahme der offiziellen Reserven Venezuelas, Afghanistans und Russlands durch die USA, aber sie ist real. Die Vereinigten Staaten drohen allen Ländern mit zerstörerischen Sanktionen, sollten diese versuchen, ihre eigenen nationalen Interessen über das zu stellen, was US-Diplomaten für sie vorsehen. Soll Europa verarmen, weil der US-Plan das so vorsieht?

Eine Philosophin aus der Schweiz, Tove Soiland, hatte Mitte März in einem Essay die internationale Linke für ihre Positionierung in der Corona-Krise kritisiert. Die Linke, so ihre These, sei zu sehr pro autoritäre Regierung und Bevormundung – und kopiere damit Methoden der traditionellen rechten Parteien. Teilen Sie diese Ansicht? Wie würden Sie diese Frage beantworten, speziell mit Blick auf Ihr neues Buch, wo es heißt: „… der alternative Weg ist ein weitgehend gemischtwirtschaftlicher Industriekapitalismus, der zum Sozialismus führt …“.

Was die USA einen freien Markt nennen, ist im Wesentlichen eine zentral geplante Wirtschaft. Noch viel zentraler geplant als in China. Dieser Markt wird einfach von der Wall Street und anderen Finanzzentren wie der City of London, Paris oder Frankfurt/Main geplant. Die Frage ist also immer: Wer plant? Plant der Finanzsektor, der nur auf seine eigenen Interessen schaut? Oder planen gewählte Volksvertreter und Politiker, die sich für soziales Wachstum und steigenden Lebensstandard einsetzen?
Wenn also auf Fehler der zentralen Planung im Stalinismus und auch in der DDR hingewiesen wird, muss man gleichzeitig ebenso Fehler zentraler Planer im Westen von Wall Street, Frankfurt und anderen Finanzzentren benennen. Ich denke nicht, dass Sie wollen, dass Klaus Schwab und sein World Economic Forum (WEF) die neuen zentralen Planer der Weltwirtschaft werden. Und Sie wollen sicherlich auch nicht, dass die Milliardäre dieser Welt zu den Planern werden. Denn deren Plan würde lauten: Sich selbst noch reicher zu machen und dich arm zu halten.
Der „mächtige Wurlitzer“ – eine CIA-Kampagne im Kalten Krieg, um linke Bewegungen und Organisationen zu beeinflussen – hatte sich darauf konzentriert, die Kontrolle über Europas sozialdemokratische Arbeiter-Parteien zu erlangen. In der Erwartung, dass die große Bedrohung für den US-Finanzkapitalismus der Sozialismus sein würde. Deshalb sind die rechtsnationalistischen Parteien Europas weniger von der politischen Einmischung der USA beeinflusst. Von dort kommt auch der Widerstand in Europa gegen die Nato, wie in Frankreich und Ungarn zu beobachten.
Die sozialdemokratischen Parteien sind heute im Grunde bürgerliche Parteien, deren Anhänger darauf hoffen, in die nächsthöhere Klasse aufzusteigen oder zumindest Aktien- und Anleiheinvestoren im Mini-Format zu werden. Das Ergebnis ist, dass der Neoliberalismus von Tony Blair und Kollegen von Großbritannien aus in andere Länder gebracht wurde. Ich diskutiere diese politische Dimension in meinem neuen Buch.
Zurück zum Begriff Sozialismus: Er ist immer eine Mischwirtschaft. Jede Wirtschaft, die in der Geschichte erfolgreich war, ist oder war eine gemischte Wirtschaft, öffentlich und privat. Schauen Sie sich Deutschland im späten 19. Jahrhundert als junge Industriemacht an. Auch damals eine gemischte Wirtschaft: sozialistisch und privat organisiert. Ebenso das moderne China. Dort haben Sie eine zentral geplante Infrastruktur, unter dem Aspekt: „Was müssen wir der Wirtschaft bereitstellen, damit sie gut funktioniert?“ China erschafft Geld und erzeugt Kredite in seinem Bankenwesen, um die Realwirtschaft zu unterstützen. Anders als die EZB verwendet sie dieses Geld nicht dazu, chinesische Aktien- und Anleihekurse in die Höhe zu treiben. Peking investiert gezielt in die Wirtschaft des Landes. Jede Wirtschaft wird von jemandem geplant. Die Frage ist immer nur: Wer plant was für wen in welchem Interesse?

Könnte der Krieg in der Ukraine ein Wendepunkt sein, um in der Welt eine neue geopolitische Landkarte zu zementieren? Oder ist die neoliberale Neue Weltordnung auf dem Vormarsch? Sie hatten eben schon Klaus Schwab erwähnt, der damit in Verbindung gebracht wird. Wie sehen Sie das?

Das bringt uns zurück zu Ihrer ersten Frage. Die Welt wird in zwei Teile aufgespalten. Der Konflikt ist nicht nur der Westen gegen den Osten. Es ist kein Box-Kampf, wo die Kontrahenten in derselben Gewichtsklasse kämpfen. Es ist tatsächlich ein Konflikt der Wirtschaftssysteme: Ein räuberischer Finanzkapitalismus gegen einen „industriellen Sozialismus“, der auf Autarkie für Eurasien und die SCO-Staaten abzielt.
Die blockfreien Länder waren in den 1970er Jahren nicht in der Lage, „allein zu handeln“, weil ihnen die kritische Masse fehlte, um ihre eigenen Nahrungsmittel, Rohstoffe und Energiemengen zu produzieren. Damals blockierten westliche Institutionen wie der IWF oder die Weltbank den dortigen Fortschritt im Interesse US-amerikanischer Investoren. Aber jetzt, da die Vereinigten Staaten ihre eigene Wirtschaft deindustrialisiert und ihre Produktion nach Asien ausgelagert haben, haben diese Länder die Möglichkeit, sich von der Abhängigkeit zur US-Dollar-Diplomatie zu lösen. Dank China und Russland können die Länder jetzt zum ersten Mal „alleine handeln“ und haben eine Alternative. Und sie verfolgen diese Alternative, so schnell sie können.
Die USA verlieren nach und nach die Fähigkeit der eigenen Wertschöpfung, auch militärisch wollen sie nicht mehr so viele Soldaten ins Ausland schicken. Allerdings produzieren sie noch Waffen, die dann mit europäischem Geld bezahlt in die Ukraine geschickt werden.
Russland ist ein großer Gegenspieler. Er stellt sicher, dass die Welt eine Alternative zur US-Dominanz erhält. Aber: Die Welt ist schon lange auf der Suche nach einer guten Alternative. Und eine wichtige Frage dabei wird sein: Wie entscheiden sich die Deutschen? Ich kann Ihnen sagen, wie die deutsche Regierung entscheiden wird. Sie wird immer auf der Seite des US-Militärs stehen. Aber vielleicht will die deutsche Bevölkerung ja einen anderen Weg einschlagen …

Noch einmal zu Ihrem Buch „Super Imperialism“, das in der ersten Fassung 1972 in New York und 2021 in der dritten Version erschienen ist. Ist es nicht so, dass Ihr Buch kurz nach Veröffentlichung im Militär- und Geheimdienstwesen der USA auf großes Interesse gestoßen ist? Die CIA soll damals sogar große Bestandsmengen des Buchs direkt aufgekauft haben …

Nun, ich habe mein Buch geschrieben, um zu erklären, wie der US-amerikanische Währungsimperialismus durch den Dollarstandard funktioniert. Die meisten Exemplare wurden in Washington verkauft. Der Politologe Herman Kahn, der ein nationales Sicherheitsanalyse-Institut – das „Hudson Institute“ – leitete, sagte, dass damals die größten Verkäufe meines Buches an das Außenministerium und die CIA gegangen sind. Kahn unterbreitete mir in jener Zeit folgenden Vorschlag: „Wenn Sie die akademische Welt verlassen, Ihren Posten als Professor aufgeben und mit mir zusammenarbeiten, dann werde ich Ihr Gehalt vervierfachen. Ich bringe Sie ins Weiße Haus und dann können Sie mit den Menschen reden, die die Macht innehaben.“ Also begann ich, für das Hudson Institut zu arbeiten. Kurz darauf erhielten wir einen 85.000-Dollar-Vertrag vom US-Verteidigungsministerium, also dem Pentagon. Damit erhielt ich die Möglichkeit, den Verantwortlichen im Pentagon ihren eigenen US-Finanzimperialismus zu erklären. So wie ich es bereits zuvor in meinem Buch tat.

Wie die Pentagon-Offiziellen mir damals berichteten, waren sie vor allem besorgt darüber, ihre US-Dominanz und die US-gesteuerte Goldversorgung zu verlieren. Jene dominierte global vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg. 1950 kontrollierten die USA über 75 Prozent der monetären Goldmengen weltweit. Sie hatten Angst, all das zu verlieren. 1971 hob die US-Regierung unter Richard Nixon die bis dahin gültige Golddeckung für den US-Dollar auf. Die Folge war, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich nicht mehr in der Lage waren, in dieser Form von den USA Gold zu kaufen. Stattdessen erwarben sie nun US-Staatsanleihen. Das finanzierte dann den US-Militärhaushalt, das ausländische US-Zahlungsbilanzdefizit sowie das inländische Haushaltsdefizit Washingtons.
Die Pentagon-Beamten dachten damals: „Das ist genial. Wir nutzen eine neue Art des Imperialismus. Wir müssen keinen Militärimperialismus und Kolonialismus mehr einsetzen. Wir können Finanzen nutzen, wir können das Finanzsystem militarisieren. Wir können das Finanzsystem zu einer Waffe machen und die Welt auf diese Weise regieren.“ So stellte sich also heraus, dass die Hauptleserschaft meines Buches die Imperialisten selbst waren – und eben nicht die Anti-Imperialisten.

Letzte Frage, Mr. Hudson: Was ist Geld? Welche zentrale gesellschaftliche Funktion hat Geld oder sollte Geld haben?

Das kommt darauf an, wer das Geld kontrolliert. Geld wird zunächst von der Regierung erschaffen. Diese verleiht dem Geld auch seinen Wert, indem sie es als offizielles Zahlungsmittel erlaubt. Sie lenkt das Geld in die Wirtschaft, um etwa Infrastruktur zu bauen.
Warum nun akzeptieren die Menschen das Geld? Nun, sie müssen damit ihre Steuern bezahlen. Geld ist nun einmal Teil des Fiskal- und Finanzsystems. Es gibt einen zirkulären Strom zwischen Einkommen, Steuern, Staatsausgaben etc. Dazu braucht man Geld. Geld ist grundsätzlich ein Instrument, um Schulden zu bezahlen und Löhne bzw. Gehälter zu empfangen. Und es gibt daneben noch ein Zentralbank-Geld.
Ich habe früher einige wissenschaftliche Artikel und Aufsätze über die Ursprünge und die Entstehung des Geldes für verschiedene Enzyklopädien und Nachschlagewerke verfasst. Sogar für den deutschen Springer-Verlag. Die meiste Zeit meiner Arbeit an der Harvard Universität, insgesamt 25 Jahre, war der Beschreibung, wie Geld erschaffen wird, gewidmet. Geld wurde zunächst im Wesentlichen von Regierungen zur Kontoführung und Bilanzierung geschaffen. Sie benötigten damals einen gemeinsamen Nenner für Bilanzen, und um die Höhe von Schulden messen zu können. Letztendlich ist Geld dafür da, Schulden zu bezahlen. Aber die Frage ist: Wer bezahlt an wen seine Schulden? Geht das Geld an private Banker oder an die Regierung, an öffentliche Stellen?
Wenn Privat-Bankiers dieses Geld erhalten, stärkt das ihre Macht. Damit sie am Ende die zentralen Planer werden können, über die wir gesprochen hatten. Wenn das Geld durch die öffentliche Hand verwendet wird, um etwa Steuern zu bezahlen und Schulden abzutragen, dann wird die Regierung der zentrale Planer. Eventuell auch, um die Gesellschaft insgesamt voranzubringen.
Es gibt also zwei verschiedene Sichtweisen auf Geld. Die Frage ist nur: Welcher Weg wird gewählt?

Professor Hudson, vielen Dank für Ihre Zeit und dieses faszinierende Interview.

Mit Michael Hudson sprach Alexander Boos für die „ViER.“ Im Juni 2022. Ein erster Auszug aus dem Interview erschien in Heft 4/22. Ein zweiter folgt in Heft 5/22.

Zur Person: Michael Hudson wurde am 13. März 1939 in Chicago geboren. Sein Patenonkel war der russische Revolutionär Leo Trotzki. Nach seiner Doktorarbeit studierte er den Finanzkapitalismus als Angestellter der Chase Manhattan Bank. 1972 publizierte Hudson sein Hauptwerk »Super Imperialism«, das 2017 unter dem Titel „Finanzimperialismus – Die USA und ihre Strategie des globalen Kapitalismus“ auf Deutsch erschien. Hudson war einer von wenigen Ökonomen, die öffentlich vor der Finanzkrise 2007 warnten. Während der Euro-Krise beriet der US-Wirtschaftsprofessor die Regierungen von Island und Lettland. In China lehrt er an der „Beijing Universität“ in Peking.