24. November 2022

„Aus, aus, aus, aus – das Spiel ist aus!“

Von Uwe Strachau

Eine Art Abschiedsbrief

Wohl jeder, der sich in diesem Land für Fußball interessiert, kennt den legendären Jubel des Reporters Herbert Zimmermann nach dem Schlusspfiff des WM-Finales zwischen dem krassen Außenseiter Deutschland (dabei möchte ich anmerken, dass es hier und im Folgenden immer um die westdeutsche Mannschaft geht) und dem Topfavoriten Ungarn am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorfstadion, den ich in der Überschrift zitiere. Damals war ich noch nicht geboren, wäre aber gern dabei gewesen.

Meine Liebe zum Fußball, zum „Jogo bonito“, dem „schönen Spiel“, wie es die Brasilianer nennen, begann erst 16 Jahre später. Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als ich mein Micky-Maus-Heft zur Seite legte, und gebannt das Ende des WM-Viertelfinales 1970 verfolgte, zu dem sich die ganze Familie vor dem Fernseher meiner Großeltern versammelt hatte. In diesem Moment erzielte im tausende Kilometer entfernten mexikanischen Leon „Uns Uwe“ Seeler sein berühmtes Hinterkopftor zum 2:2 Ausgleich gegen England. Genau wie beim „Wunder von Bern“, gewann die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nach 0:2 Rückstand noch mit 3:2.

Acht Jahre alt war ich damals und habe seitdem kein einziges Spiel einer deutschen Mannschaft bei einer Weltmeisterschaft verpasst. Weder die legendären Duelle mit den Holländern 1974 und 1990, die „Nacht von Sevilla“ 1982 mit dem Elfmeterdrama gegen Frankreich, noch den letzten Final-Triumph gegen Argentinien 2014 in Rio.

Seit gestern ist alles vorbei. Ich werde mir nie wieder ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft anschauen. Nicht, weil sie nach einer 1:0 Führung noch mit 1:2 gegen „Underdog“ Japan verloren haben. Auch nicht, weil sie einfach nur schlecht gespielt haben. Die Gründe dafür liegen tiefer.

Der 23. November markiert für mich das endgültige Ende einer großen Liebe. Wie immer, wenn eine Liebe zu Ende geht, hat der Prozess der Entfremdung schon sehr viel früher eingesetzt. Wahrscheinlich habe ich mich beim letzten Titelgewinn 2014 so unglaublich gefreut, weil ich schon damals geahnt habe, dass ich nie wieder so über einen deutschen Sieg jubeln würde. Vielleicht, weil damals schon beschlossen war, dass die WM acht Jahre später in der Wüste stattfinden sollte. Das war für mich der Anfang vom Ende.

Als dann auch noch entschieden wurde, die WM vom Sommer auf die Vorweihnachtszeit zu verlegen, nahm ich mir fest vor, diese WM zu „boykottieren“. Dass die letzte WM 2018 in Russland mit dem erstmaligen Vorrundenaus einer deutschen Mannschaft zum absoluten Desaster wurde, bestärkte mich in meinem Beschluss.

Diese WM nicht zu schauen, hatte dabei nichts mit der Menschenrechtssituation in Katar zu tun. Darüber wusste ich damals noch nichts. Die Fußball-Weltmeisterschaft in einem Land auszutragen, das nicht den Hauch von Fußballtradition aufweist – und das auch noch im Winter – hatte für mich in etwa die Attraktivität einer Eishockey-WM in Ghana in Freiluft-Stadien. Als dann immer mehr über die furchtbare Behandlung der „Arbeits-Sklaven“ auf den Stadienbaustätten berichtet wurde, verfestigte das meinen Boykottbeschluss.

Doch dann bin ich trotz aller „guten Vorsätze“ wieder schwach geworden. Einfach am Computer zu sitzen, während mein einstiger Liebling Thomas Müller und seine Kollegen gegen Japan womöglich ein „Torfeuerwerk“ veranstalteten, konnte ich doch nicht übers Herz bringen. Man muss auch mal inkonsequent sein können!

Wobei wir beim eigentlichen Thema sind. Als ich den Fernseher einschaltete, um mich beim „Vorgeplänkel“ der Experten im TV-Studio über Mannschaftsaufstellung, voraussichtliche Taktik und sonstige fußballerischen Feinheiten zu informieren, wurde überhaupt nicht über Fußball gesprochen. Stattdessen diskutierten die ehemaligen Nationalspieler Thomas Hitzlsperger, Sami Khedira und die DFB-Torfrau Almuth Schult über die „One Love-Binde“, über „Haltung“ und „Zeichen setzen“.

Ich hatte zwar im Vorfeld des Spiels am Rande mitbekommen, dass heftig darüber diskutiert wurde, ob Manuel Neuer die „One Love-Binde“ statt der üblichen Kapitäns-Armbinde tragen würde. Worum es aber dabei genau ging, wusste ich nicht, konnte es mir jedoch denken. (Wer mehr über die Binde wissen möchte, und vor allem über ihre Bedeutung in einem islamischen Staat, sollte unbedingt das Essay dazu von Dushan Wegner lesen.)

Als dann zu Reporter Tom Bartels ins Stadion geschaltet wurde und der ebenfalls nur darüber spekulierte, welches angekündigte „Zeichen“ denn die deutschen Fußballer statt der von der Fifa verbotenen Binde wohl setzen würden, verging mir endgültig das letzte bisschen Vorfreude auf ein schönes Fußballspiel.

Aber die Geste, sich beim obligatorischen Mannschaftsfoto vor Spielbeginn die Hand vor den Mund zu halten, konnte mir zumindest einen kurzen Lacher entlocken. Wow, was für eine große Geste! Auch der Reporter war zufrieden mit diesem „eindrucksvollen Zeichen, sich nicht den Mund verbieten zu lassen".

Welch ein Hohn!

Ich frage mich, wo all‘ die „woken“ Hyper-Moralisten waren, als es darum ging, sich für die Rechte derjenigen in unserem Land einzusetzen, die von ihrem Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit Gebrauch machen wollten und die „Impf“-Spritze verweigerten, wie zum Beispiel der Kollege Kimmich? Ist beim DFB oder bei den Bundesliga-Vereinen jemand auf die Idee gekommen, die Stimme gegen die Ausgrenzung, Diffamierung und Diskriminierung derjenigen zu erheben, die für die Wahrung unserer Grundrechte auf die Straße gegangen sind? Wo waren die Protestaktionen, als im April 2021 in Dresden ein schwules Paar von einem Islamisten ermordet wurde? Wer empört sich über antisemitische Parolen von muslimischen Bürgern im eigenen Land? Hier der „gute“ Moslem, in Katar die „bösen“? Dann lieber gar keine Moral, als diese unerträgliche Doppelmoral!

Und als Krönung des Ganzen dann noch die „beste Innenministerin aller Zeiten“ mit der Binde auf der Ehrentribüne! Als ich dieses Bild sah, war für mich endgültig klar: Man muss eben doch manchmal konsequent sein. Ihr habt es also geschafft: Die Freude, die mir das „schöne Spiel“ 50 Jahre lang bereitet hat, ist vergangen. Das Spiel ist aus!